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Freiheit für den Borkenkäfer

Im Nationalpark Bayerischer Wald werden Borkenkäfer nicht bekämpft, sondern dürfen nach Herzenslust Bäume anfressen. Das stört Tourismusverbände und die Forstwirtschaft, macht den Wald aber vielfältiger.

Von Michael Watzke | 05.08.2013
    Unterwegs auf Borkenkäfer-Patrouille mit Franz Leibl, dem Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald.

    "Direkt vor uns ist der Lusengipfel. Und links kommt der große Rachel, das ist der größte Berg im Nationalpark."

    Hier oben, auf 1300 Metern, hat der Buchdrucker gehaust, wie der Fichten-Borkenkäfer heißt. Franz Leibl blickt auf Hunderte Baum-Skelette.

    "Abgestorbene Fichtenstämme. Da hat man die toten Borkenkäfer-Bäume belassen. Hier entsteht sekundärer Urwald. Nur sind wir das nicht gewohnt, weil wir diese Waldbilder die vergangenen 100, 200 Jahre nicht gekannt haben."

    Das geht vielen Touristen so. Auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der auf dem Lusen gerade auf Wahlkampf-Wandertour ist.

    "Das fällt auf. Ich dachte, das hat mit dem sauren Regen zu tun. Aber es ist offenbar eine Borkenkäferplage."

    Franz Leibl sieht den Borkenkäfer nicht als Plage. Das Totholz, das auf dem Lusengipfel liegt oder in den blauen Himmel ragt, ist für ihn ein Zeichen für den Kreislauf der Natur.

    "Totholz ist ganz wichtig für das Leben im Wald. Weil Nationalparks ja natürliche Wälder darstellen. Da gehört auch der Borkenkäfer dazu. Der wird hier nicht bekämpft und kann sich entwickeln, wie die Natur das zulässt. Genau das erleben wir hier."

    Leibl freut sich vor allem über die Jungen Wilden, wie er die frischgrünen Fichten nennt, die aus dem Totholz herauswachsen. In der Ferne hört man die seltenen Dreizehen-Spechte schlagen.

    "Die profitieren eindeutig von diesem Totholz-Reichtum, der im Nationalpark vorhanden ist. Wir haben hier Urwald-Reliktarten. Die haben nur in Naturwald-Reservaten überlebt. Das sind vom Aussterben bedrohte Käferarten oder seltene Pilzarten wie die zitronengelbe Tramete."

    Aber bayerische Waldbesitzer, für die der Baumbestand ein Wirtschaftsfaktor ist, freuen sich nur bedingt über zitronengelbe Trameten. Etwa der Franke Sighard Hartel, der seine Fichten fällen musste, nachdem der Borkenkäfer sie angefressen hatte.

    "Solche Riesenbäume für 40 Euro pro Festmeter – das tut einem weh. Schlichtweg zum Verzweifeln. In der Käferzeit dachte ich: verkauf den Scheiß – dann bist Du ihn los."

    In der Nachbarschaft des Nationalparks Bayerischer Wald allerdings gibt es keine Borkenkäfer-Probleme. Denn an den Rändern lässt Franz Leibl befallene Bäume sofort abholzen und abtransportieren.

    "Wichtig ist, dass man die Randzone managed, dann kann ich die Naturzone so lassen, wie sie ist – und kann der Natur freien Lauf lassen."

    Und das funktioniert, sagt Leibl. Ganz ohne Pestizide. Die Borkenkäfer-Population, die sich nach dem Sturm Kyrill vor sechs Jahren explosionsartig vermehrte, sei wieder zurückgegangen. Wo sie die alten Fichten wegfraß, wuchsen neue Fichten oder – in tieferen Lagen – Buchen und Tannen, die den Wald abwechslungsreicher machen. So wie er war, bevor der Mensch ihn zum Wirtschaftswald umformte.

    "Das ist im Prinzip ein großes Lernobjekt. Auch was Waldentwicklung und Klima-Änderung anbelangt. Das ist die große Referenzfläche, die wir haben. Es ist sinnvoll, dass man solche Wälder in dieser Größenordnung hat, die sich selbst überlassen sind und Nationalparke darstellen."

    Der Nationalpark Bayerischer Wald ist der älteste in Deutschland. Und, so sagt sein Leiter Franz Leibl, er sei einmalig in Mitteleuropa. Urwald wie diesen finde man sonst nur in Amerika.


    Die weiteren Beiträge aus der Reihe "Der umstrittene Wert der Wildnis" finden Sie hier.