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Freiheit nur fürs Kopftuch?

Das Jahr 2008, so hatten die beiden starken Männer der regierenden AKP, Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül zum Ausgang von 2007 versprochen, werde das Jahr der EU werden. Nachdem 2006 und 2007 durch den Konflikt um Zypern, vor allem aber durch die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Wahl des Staatspräsidenten für den EU- Beitritt verlorene Jahre waren, sollte nun der Reformprozess auf der politischen Agenda wieder ganz nach oben rücken.

Von Jürgen Gottschlich | 17.03.2008
    Der vollmundigen Ankündigung folgte zunächst das glatte Gegenteil. Statt endlich den Schandparagrafen über die "Beleidigung des Türkentums" abzuschaffen, begann stattdessen der Angriff auf den Nordirak. Konnte man der AKP in diesem Fall noch zugute halten, dass sie damit vor allem dem Drängen des Militärs nachgegeben habe, so gibt es für die zweite politische Großaktion dieses Jahres keine Entschuldigung mehr. Statt den seit langem zirkulierenden Entwurf für eine neue, demokratischere, EU kompatiblere Verfassung vorzulegen, griff die Partei sich nur ein einziges Anliegen heraus und veränderte mit Hilfe der rechtsradikalen Oppositionspartei MHP lediglich zwei Artikel der bestehenden Verfassung, mit dem Ziel, das Verbot von Kopftüchern an den Universitäten abzuschaffen.

    Damit droht die AKP nun ihre bislang wichtigsten Unterstützer außerhalb ihres eigenen, religiösen, konservativen Milieus zu verlieren. Die Liberalen, bis hin zu den linken Intellektuellen des Landes, sind enttäuscht und beginnen, sich von der Partei abzuwenden. In einem offenen Brief haben über 100 bekannte Intellektuelle vor wenigen Tagen noch einmal zusammengefasst, was sie von der Partei erwarten: die Minister der AKP sollen endlich aufhören in Europa Hände zu schütteln und stattdessen konkrete Taten im Reformprozess durchsetzen. Wenn es der AKP mit ihrer EU Politik wirklich noch ernst sei, müsse man wieder, wie in der Phase von 2002 -2004, die Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft durch die eigene Reformpolitik in Verlegenheit bringen.

    Tatsächlich kommt für Erdogan und Gül jetzt die Stunde der Wahrheit. Die Zeit, als die AKP noch sowohl Regierung als auch Opposition war, ist endgültig vorbei. Die Regierung hat nach den Wahlen des letzten Jahres unzweifelhaft die Macht und sie muss jetzt zeigen, wofür sie sie zu gebrauchen denkt. Die Kopftuchentscheidung mit der Brechstange hat nicht nur im kemalistischen Establishment alle Vorurteile gegen die AKP bestätigt, sondern vor allem in der liberalen Intelligenz, dem Teil der Gesellschaft, der bislang auch durch Personen und deren Verbindungen das Sprachrohr der AKP in Europa war, für heftige Irritationen gesorgt. Offenbar versteht die AKP unter Freiheit nur die Freiheit der Mehrheit, schrieb einer ihrer Wortführer, Cengiz Aktar und urteilt: die Türkei der AKP ist keine europäische Türkei. Etwas weniger kategorisch ist Mehmet Ali Birand, ein anderer Wortführer der liberalen türkischen EU Fraktion: Auf die Frage, ob es möglich ist, die derzeitig schlechte Situation wieder zu verändern, eine Versöhnung zwischen der AKP und den Liberalen herbeizuführen und den ursprünglichen Enthusiasmus des Publikums für die EU wieder zu wecken, schrieb er: Ja, es ist ganz einfach. Erdogan und sein Kabinett müssen nur auf den Pfad der Reformen zurückkehren.

    Allerdings müssten diese Reformen wirklich Substanz haben, wenn die Regierung das verloren gegangene Vertrauen wieder gewinnen will. Denn der Verdacht, dass Erdogan und die AKP die EU-Karte nur gespielt haben, um ihre eigene Machtposition abzusichern, sitzt tief. Deshalb wird in einer ganz grundlegenden Weise das Jahr 2008 wirklich das Jahr der EU. Denn bis zum Ende dieses Jahres wird man definitiv wissen, ob die islamisch-konservative AKP die EU nur benutzt hat, oder ob ihr Ziel tatsächlich die Verankerung der Türkei in Europa ist.