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Freiheit und Geborgenheit

Astrid Lindgren hat unser Bild von Schweden geprägt: rote Holzhäuschen mit weißen Kanten umgeben von weiten Wiesen und dunklem Wald. Die Inspiration erhielt die große Kinderbuchautorin durch ihre Jugend in Smaland in Südschweden. 1907 wurde sie dort als Tochter eines Bauern auf dem Pfarrhof Näs bei Vimmerby geboren. Seit dem vergangenen Jahr steht das Haus für Besucher offen.

Von Agnes Bührig | 11.11.2007
    Astrid Lindgrens Geburtshaus sieht aus wie eines der Häuser von Bullerbü: rot mit weißen Kanten, umgeben von Blumen und Büschen, auf der einen Seite eine weiße Veranda. Museumspädagogin Linda Jönsson holt einen umfangreichen Schlüsselbund aus der Tasche und schließt das Holzhaus am nördlichen Rand von Vimmerby auf, dann setzt sie die Alarmanlage außer Kraft. Nicht alles ist mehr so wie damals vor 100 Jahren, als Astrid Lindgren geboren wurde, aber das meiste, erklärt die schlanke Schwedin mit der randlosen Brille, öffnet die Tür zur Küche:

    "Hier haben wir alles, was sie damals zum Brotbacken benutzt haben, einen Schaber, mit dem Asche und Glut aus dem Ofen gekratzt wurde, und einen Brotschieber, auf dem die Brote in den Ofen kamen. Gebacken wurde einmal im Monat, etwa 14 Laibe. Am Abend vorher haben sie den Ofen mit Holz angeheizt, damit auch das Mauerwerk warm wurde. Dann wurden Asche und Glut herausgenommen, sauber gemacht und die Brote hineingeschoben."


    Am 14. November 1907 wird Astrid Lindgren als zweites Kind von Samuel August und Hanna Ericsson auf Näs geboren. Zwei Jahre zuvor haben die Eltern die Bewirtschaftung des Pfarrhofes übernommen, führen die Aufsicht über zwei Mägde, vier Knechte und ungezählte Hühner, Schweine und Kühe. Ihren vier Kindern vermitteln sie Geborgenheit und Freiheit gleichermaßen, erinnert sich Astrid Lindgren in den 60er Jahren an ihre Kindheit:

    "Ich hatte das Glück, dass ich in einem sehr geborgenen Elternhaus aufwuchs. Ich hatte einen Großvater väterlicherseits, der wie der Großvater in Bullerbü oben unter dem Dach wohnte. Man ging hoch zu ihm und bekam Kandiszucker. Wir lebten mit einer ganzen Reihe Menschen zusammen. Da gab es Ida i Liljerum und Marie in Vendeladal, die Gitarre spielte und sang.

    Es kamen auch viele Landstreicher, die für uns Kinder das Unbekannte verkörperten, gleichzeitig waren sie spannend. Es gab sehr liebe Landstreicher, genauso wie es die anderen gab."

    Hanna und Samuel August geben ihren Kindern eine christliche Erziehung. In der guten Stube steht die Heimorgel, an der Astrid nur ungern übte. Sich auf den Kopf stellen, fünf Minuten warten und über Kopfschmerzen klagen war ihr Rezept, wenn sie nicht zum Orgelunterricht gehen wollte. Lieber spielte sie mit ihren Geschwistern Fangen oder "Boden nicht berühren”. Dabei schwangen sich die Ericssonkinder von der Kommode übers Bett auf die obere Türkante genauso wie später Pippi Langstrumpf. Ein Vergnügen, das ihrem Naturell entsprach, erzählt Museumspädagogin Linda Jönsson:

    "Sie war sehr waghalsig. Astrid musste alles ausprobieren und manchmal passierten auch Unglücke. Als sie einmal einen Freund in Vimmerby besuchte, kamen sie auf die Idee, die Tragfähigkeit einer Rettungsleine aus dem Dachgeschoss über der Apotheke auszuprobieren. Das ging schief, und Astrid fiel ein paar Meter tief. Ihr Vater kommentierte das Abenteuer mit den Worten: Gut, dass du vor einer Apotheke gelandet bist, da konntest du gleich ein Pflaster bekommen."

    Den Spaß am Geschichtenerzählen und die Fähigkeit, sich nicht allzu ernst zu nehmen, hat sich Astrid Lindgren vermutlich von ihrem Vater abgeguckt. Mit 13 Jahren veröffentlicht sie erstmals einen Text. "Unser Hof" heißt der Aufsatz, der in der Lokalzeitung erscheint und in dem sie vom Leben auf Näs berichtet. Danach nennen sie ihre Freunde die Selma Lagerlöf von Vimmerby.

    Astrid Lindgren nimmt sich vor, nie wieder eine Zeile zu schreiben. Doch es sollte anders kommen. Anfang der 40er Jahre, als Tochter Karin krank im Bett liegt, denkt sich ihre Mutter Geschichten über eine gewisse Pippi Langstrumpf aus. Zu ihrem 10. Geburtstag 1944 schreibt sie sie für die Tochter nieder. Bis heute erinnert sich Tochter Karin Nyman liebevoll daran, dass ihre Mutter sie immer ernst nahm:

    "Ich war immer gern mit ihr zusammen, das war immer so lustig. Es ging nicht darum, dass sie mich unterhielt oder mit mir spielte. Aber wenn wir zusammen waren, war sie mir immer sehr zugetan, zeigte eine Art Anteilnahme, vermutlich weil sie selbst es nie langweilig hatte. Und das zeigte sie auch im Umgang mit Kindern. Da war sie sehr souverän, weil es ihr selbst so viel Spaß machte zu spielen. "
    Spielen und Schabernack treiben, das ist auch die Hauptbeschäftigung der Figuren in ihren Büchern - lange vor der Erfindung von Spielkonsole und Internet. Pippis, Maditas oder Emils Spiele sind jene, die Astrid Lindgren als Kind selbst spielte. Im Gebäude neben ihrem Geburtshaus, in dem eine Ausstellung über das kleine Vimmerby vor mehr als 100 Jahren berichtet, können sich die Kinder von heute davon erzählen lassen. Mit einem Knopfdruck am Modell wird ein alter knorriger Baum vor dem Haus angeleuchtet:

    "Astrid Lindgren und ihre Geschwister nannten den hohlen Baum Eulenbaum, weil in seinem hohlen Stamm Eulen wohnten. Astrids Bruder Gunnar tauschte manchmal die Eier der Eulen gegen die von Hühnern aus und erreichte damit, dass die Eulen die Hühnereier bebrüteten, bis die Hühner schlüpften. Der Baum war ein fantastischer Kletterbaum, und Astrid und die anderen Kinder auf Näs spielten oft darin."

    Den knorrigen alten Baum gibt es immer noch, und bis heute zieht er Kinder magisch an, 100 Jahre nachdem Astrid Lindgren hier auf dem Gut Näs bei Vimmerby geboren wurde.
    Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf
    Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf. (AP Archiv)