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Freiheit und Selbstverwirklichung - Margret Boveri und Jeanne Hersch

"Freiheit und Selbstverwirklichung" lautet das Thema der vorletzten Folge unserer sechsteiligen Serie "Intellektuelle Gegenpole". In ihrem Essay stellt Katharina Rutschky die Publizistin Margret Boveri und die Philosophin Jeanne Hersch einander gegenüber.

Von Katharina Rutschky | 31.05.2009
    Die Berliner Autorin Rutschky hat sich in den vergangenen Jahren vor allem mit pädagogischen Themen auseinander gesetzt. 1999 erschien beim Hanser-Verlag ihr Buch "Emma und ihre Schwestern. Ausflüge in den real existierenden Feminismus".


    Freiheit und Selbstverwirklichung
    Margret Boveri und Jeanne Hersch

    Von Katharina Rutschky

    Begegnet sind sie sich nie: die deutsche Publizistin Margret Boveri, geboren 1900 in Würzburg, gestorben 1975 in Berlin und die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch, bloß zehn Jahre jünger, und hochbetagt in Genf im Jahr 2000 verschieden.

    Die buchstäblich als Sozialdemokratin geborene, nämlich von sozialdemokratischen Eltern geprägte Hersch und die ebenso familiär geprägte Nationalkonservative Boveri hätten sich über die deutsche Schuld, Europa als Utopie, die neue Ostpolitik der Regierung Brandt und 68 streiten können.

    Dabei wäre bei manchen vielleicht der Eindruck entstanden, Hersch sei die Konservative, Boveri die Radikale; denn die Philosophin, Tochter polnisch-jüdischer Eltern, fürchtete jede Form des Totalitarismus. Als Engelhaftigkeit verurteilte Hersch ein Streben, das auf unmenschliche Einheit und Harmonie wie in der klassenlosen Gesellschaft zielte.

    In den Überlegungen der politischen Publizistin Boveri spielten Freiheit und Menschenrechte nie eine Rolle. Die Worte, mit denen sie das 20. Jahrhundert zu erfassen suchte, lauten Treue, Lüge und Verrat. Sie entstammen dem Kodex des Feudalismus, werden von Boveri aber eingesetzt, um die moralisch-politischen Desaster ihrer Zeit- und ihre eigenen zu beschreiben.

    "Wir lügen alle" behauptete sie schon im Titel ihrer Dokumentation über das "Berliner Tageblatt" in den 30er-Jahren. Aus eigener Erfahrung schildert Boveri die täglichen Verrenkungen, die der Redaktion abverlangt wurden, die den absonderlichen Ehrgeiz hatte, eine wenigstens zwischen den Zeilen lesbare Hauptstadtzeitung unter Hitler zu machen. Ein Katz- und -Maus-Spiel der anstrengendsten und gefährlichsten Sorte in Boveris Darstellung.

    Der Verrat wurde in ihrem ambitioniertesten Werk zur Schlüsselkategorie für die Geschichte des 20. Jahrhunderts. So wie alle lügen, müssen alle zum Verräter werden. Die Frage ist nur, wen oder was man verrät: Die Nation, die Freunde oder die Ideale die man einmal hatte.

    Boveris vier Bände über den "Verrat im 20. Jahrhundert" wurden in der jungen Bundesrepublik zum Bestseller. Heute liegen die Gründe dafür auf der Hand: Wenn es zum Verrat keine Alternative gab und gibt, dann sind alle Mitläufer und Mittäter des Dritten Reichs gerechtfertigt und alle jene als Pharisäer entlarvt, die meinen über sie im Namen einer Moral, irgendeiner Ideologie zu Gericht sitzen zu dürfen.

    In dieser tragischen Psychologie des Verrats können Spione, todesbereite Gesinnungstäter und machtgierige Kollaborateure, einfache Verbrecher, Widerstandskämpfer und Emigranten bequem unter einer Überschrift abgehandelt werden. Wie Boveri es auch 1971 noch tat:

    "Also ich würde sagen bei den Verrätern mit denen ich mich beschäftigt habe, war die große Schwierigkeit die, dass sie zwischen verschiedenen Arten der Treue wählen mussten. Eines der einfachen Beispiele ist Laval, der Mann der unter der deutschen Besatzung bereit war, Ministerpräsident zu bleiben, bei dem also Treue zum sogenannten Vaterland stärker war, als die Treue zu einer Ideologie der Freiheit. "

    Unter den Linken galt Boveri als progressiv, weil sie den "kalten Krieg" für einen Fehler hielt und um Verständnis für die DDR warb, lange ehe die neue Ostpolitik der Ära Brandt spruchreif wurde. Sie tat das aber nur, weil sie immer eine Feindin der Westbindung der Bundesrepublik gewesen war. Ihr lag die Unabhängigkeit und Selbständigkeit Deutschlands am Herzen, einer zentraleuropäischen Macht von eigenem Charakter wie das Reich es vor 1914 gewesen war. Das Reich ihres Vaters, ihrer Kindheit und des Milieus der alten Oberschicht, in dem sie sich immer bewegte.

    Zwei Kriege, zwei Niederlagen, die Schmälerung des nationalen Territoriums und die Teilung in zwei Staaten als Folge eines antiwestlichen, antidemokratischen Sonderwegs hinterließen bei der studierten Historikerin und weitgereisten Journalistin keine Spuren.


    Anders als die Professorin Hersch sympathisierte Boveri mit den rebellischen Studenten, die 68 die Universität umkrempeln wollten. Aber genauso wie bei ihrer überraschenden Option für Brandt und die neue Ostpolitik hatte sie ihre eigenen Gründe

    Demgegenüber misstraute Hersch aus der Leidenschaft fürs Lernen und Lehren heraus den revoltierenden Studenten 68 und den Schweizer Jugendrebellen in den 80er-Jahren ebenso wie ihren erwachsenen Sympathisanten. Die jungen Leute litten an pubertärer Selbstüberschätzung! Viele Erwachsene zogen ihrer Auffassung nach die bequeme Anbiederei bei der Jugend ihrer Pflicht zur Verantwortung vor.

    Das Missverständnis zwischen linken Studenten und linker Professorin war in der Biografie von Hersch begründet. Wie sollte sie den Bruch zwischen den Generationen verstehen? Hatte sie nicht als Studentin aufs Lehramt für Französisch und Latein in Heidelberg in der Begegnung mit Professor Jaspers so etwas wie einen Schock, nämlich die Konversion zur Philosophie erlebt, die ihr Schicksal werden sollte?

    Zunächst besuchte ich Vorlesungen in den Fächern, in denen ich mein Staatsexamen ablegen wollte. Eines Tages fragte mich eine Studentin, 'Haben Sie schon Jaspers gehört? - Gehen Sie hin, es ist interessant. ' Am gleichen Tag betrat ich die alte Aula. Ich setzte mich in eine Fensternische und hörte Jaspers zu. Ich verstand fast nichts, weil meine Philosophie- und Deutschkenntnisse mangelhaft waren. Dennoch zögerte ich keine Sekunde. Als ich Jaspers hörte, entdeckte ich was Philosophie war.

    Hersch hat Jaspers später übersetzt und in der französischen Welt als eine soziale Alternative zu Sartres männlich-heroischer Version des Existenzialismus bekannt gemacht. Sie vertrat die These, dass diese antimetaphysische Philosophie, die sie bei Jaspers, Sartre von Heidegger gelernt hatte, nicht an die männliche Idee einer creatio ex nihilo, einer Schöpfung des Menschen aus dem Nichts gebunden war. Der Mensch in der Zeit entscheidet sich unterm Horizont von Geschichte und sozialen Bindungen.

    Wer sich heute mit Leben und Werk von Hersch und Boveri beschäftigt, dem fallen bei allen Gegensätzen der Herkunft, des Temperaments und der Gesinnung aber auch Verwandtschaften auf, für die uns erst neuerdings die Frauenforschung sensibilisiert hat.

    Egal, wie man zu ihnen steht, klar ist, dass Boveri und Hersch absolute Ausnahmefrauen sind, in der Sprache des Postfeminismus: powerfrauen. Als Heldinnen und Vorbilder, wie sie immer noch so gern in feministischen Florilegien zur weiblichen Ermunterung gesammelt werden, taugen sie beide nicht. Ausnahmefrauen, powerfrauen sind solche, die in Zeiten blühender Männerherrschaft nicht nur dank gewisser Privilegien sich freier entwickeln und auch studieren konnten, sondern außerdem solche, die ihren bemerkenswerten Erfolg ohne merkliche Blessuren erreichten.

    Beide empfanden sich wie "selfmade women" und brachten kein Verständnis, ja nicht einmal Interesse für die kollektiven Anstrengungen der weniger begünstigten Frauen auf. Obwohl es keiner an einschlägigen Erfahrungen von Diskriminierung gefehlt hat.

    Auch im Journalismus, dem sich Boveris Ehrgeiz nach diesen Informationen zuwandte, sahen sich Frauen mit einem Patriarchat konfrontiert, das keineswegs still und effizient, quasi gentlemanlike praktiziert, sondern sogar auf den Chefetagen liberaler Zeitungen noch lauthals proklamiert wurde.

    Margret Boveri war 37 Jahre alt, als sie sich bei der Frankfurter Zeitung um Mitarbeit bewarb. Sie kam aus guter Familie, hatte das Examen fürs Höhere Lehramt in Bayern abgelegt, einige Zeit maßgeblich in der Verwaltung des deutschen Zoologischen Instituts in Neapel gearbeitet; dann in Berlin ein Zweitstudium von Politik und Geschichte mit einer Doktorarbeit abgeschlossen. Schließlich über einige Jahre am Berliner Tageblatt journalistische Erfahrungen gesammelt. Und, als ob das alles noch nicht Ausweis genug ihrer alerten Tüchtigkeit gewesen wäre, lag seit 1936 auch noch ein Buch von ihr vor! Mit dem Titel "Weltgeschehen am Mittelmeer" hatte Boveri ein erfolgreiches, in mehrere Sprachen übersetztes politisches Sach- und Reisebuch verfasst.


    Als Boveri 1937 bei der Frankfurter Zeitung vorsprach, auch da noch die feinste deutsche Adresse für eine ehrgeizige Journalistin, machte ihr der leitende politische Redakteur Benno Reifenberg trotzdem klar, wohin Frauen nicht gehörten.

    "Er stieg mit mir in den oberen Stock, in den großen Raum der Redaktionskonferenzen. Reifenberg erklärte mir, die tägliche Konferenz sei der Kern, sozusagen das innere Heiligtum des Hauses. Hier werde diskutiert, was niemals nach außen dringe. Hier seien sie alle inter pares, eine Art platonischer Akademie. Es sei ein Prinzip der Zeitung, dass keine Frau an der Konferenz teilnehmen dürfe, also auch keine Frau Mitglied des Stabes werden könne. "

    Reifenberg gefiel mir gut, und ich gefiel ihm gut. Das erleichterte mir das Aufnehmen dieser an sich doch niederschmetternden Mitteilung.

    Zur Mitarbeit kam es dann tatsächlich, als Boveri 1938 im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine Reise in den Vorderen Orient unternahm, aus deren Stoff sie noch zwei Bücher zusammenstellte. Und dann, als sie von 1939 bis zum Verbot der Zeitung im Spätsommer 43, zu deren Korrespondentin in Stockholm, New York und Lissabon wurde.

    Auch Jeanne Hersch war, wie Boveri, eine Ausnahme- und powerfrau, in deren Denk- und Gefühlshaushalt so etwas wie Diskriminierung nicht vorkam.

    Mehr als zwanzig Jahre lang war Hersch Lehrerin an der Ecole Internationale, einer reformpädagogisch orientierten Schule, die eigens für die Kinder der Mitarbeiter des Völkerbunds in Genf gegründet worden war. Neun Jahre lehrte sie dann noch als Privatdozentin für Philosophie, ehe sie endlich 1956 als eine der ersten Frauen in der Schweiz auch noch zur Professorin berufen wurde.

    Man sucht nach Erklärungen, warum eine Sozialdemokratin und Philosophin, die die Freiheit ins Zentrum ihrer Philosophie gestellt hatte, die frauenfeindlichen Schweizer Verhältnisse so beharrlich ignorierte. 1959 hatten die Schweizer Männer noch einmal gegen das Frauenwahlrecht votiert. Erst 1971 gestand man es den Schweizerinnen wenigstens auf Bundesebene zu.

    Wenn weder Boveri noch Hersch Spuren von Feminismus zeigen, dann weil ihre Emanzipation das Ergebnis einer bei beiden materiell und kulturell privilegierten Herkunft war. Die Eltern in Würzburg und Genf waren beide vorurteilslos genug, in den begabten Mädchen das gewissermaßen geschlechtsneutrale Individuum zu sehen und ihre Talente zu fördern. Es fällt auf, dass beide als Singles gelebt, ehe- und kinderlos geblieben sind.

    In ihrer Entwicklung kam beiden Mädchen auch zugute, dass sie Einzelkinder waren. Boveri war das einzige und nun eben weibliche Kind eines ältlichen deutsch-amerikanischen Paares. Als Einzelkind empfand sich auch Hersch, deren Geschwister viele Jahre jünger waren und ihren Status als gehätschelte Erstgeborene nicht gefährdeten.

    Sieht man von diesen gewissermaßen strukturellen Gemeinsamkeiten ab, könnten die lebenslang mächtigen Prägungen der Töchter durch die Familie gegensätzlicher nicht sein.

    Jeanne Hersch erinnert sich:

    "Meine Eltern sind 1904,1905 aus dem russisch besetzten Warschau nach Genf gekommen, um ihr Hochschulstudium in einem freien Land zu absolvieren. Was sie in der Schweiz suchten, war die Freiheit, und nicht umsonst ist es diese Eigenschaft unseres Landes, die mich auch heute noch am meisten berührt. Ihre Studienkollegen- es waren vor allem Polen und Russen- kamen zu ihnen nach Hause, sodass ich mitten unter Studenten aus Osteuropa aufgewachsen bin. 1914, als der Krieg ausbrach, erhielten sie von zu Hause kein Geld mehr. Also gründeten sie eine Art Kommune, mit unserer Küche als Zentrum. "

    Nach einer Definition von Freiheit gefragt, dem zentralen Begriff ihrer Philosophie, gab Hersch ganz im Sinn dieser kindlichen Erfahrung in der Küche einen Hinweis auch für Nichtphilosophen:

    "Wissen Sie jemand hat gesagt, dass jeder weiß, was Freiheit ist, wenn man das Wort nicht definiert und wenn man es definiert, weiß man es nicht mehr. Und ich glaube, das ist in einem bestimmten Sinne richtig. Wir wissen was das ist, Freiheit in der Form einer Sehnsucht auch in der Form dessen, was man wirklich braucht als Vorbedingung, damit das Leben Sinn hat. "

    Der Vater von Jeanne Hersch wirkte zwar später als Professor in Genf, aber der Geist, aus dem heraus er das geworden war, unterschied sich von dem des Professors Boveri in Würzburg, über den die Tochter gehört zu haben meint, dass ihm um ein Haar ein Nobelpreis für seine zoologischen Forschungen zuerkannt worden wäre.

    Auch Boveris amerikanische Mutter war Naturwissenschaftlerin, und deshalb meinte die spätere Journalistin den faktizistischen, scheinbar ideologiefreien Stil ihrer erfolgreichsten Bücher und ihre pragmatische Nüchternheit im Elternhaus gelernt zu haben.

    Während sich hinter dieser Sorte von Realismus ein in zwei Kriegen, in Diktatur und Holocaust zweifach gescheiterter nationalistischer Konservatismus verbarg- dem die Tochter Boveri ungeachtet aller Einwände und Tatsachen bis ans Lebensende treu blieb.

    Wer verstehen will, warum das Dritte Reich nicht zu vermeiden war, so lange funktionierte wie es das tat, gegen alle inneren Brutalitäten von Anfang an und später gegen die äußeren Niederlagen im Krieg bis zum katastrophalen Ende- der sollte sich mit Boveri und dem nationalkonservativen Erbe befassen.

    Man glaubt ihr, dass sie ihren Freunden eine loyale Freundin, keine militante Antisemitin und sich für eine Mitgliedschaft in der NSDAP zu gut war. Mancher mag ihr sogar die Gründe abnehmen, die sie von der Emigration abgehalten haben und die sie in der Auseinandersetzung mit dem ungläubigen Staunen von Uwe Johnson so darstellt:

    "Ich wollte Deutschland nicht verlassen. - Das war nicht die Angst vor dem Ausland? - Nein, die hatte ich wohl nicht; eher eine starke Liebe zu Deutschland. Und das Gefühl, dass man sein Land gerade nicht verlässt, wenn es ihm schlecht geht. Was heißt nun Deutschland? Der Freundeskreis, den man dort hat? Immer blieb es die Landschaft. Wenn man auch nur von der Schweiz über die Grenze nach Deutschland kommt, hatte ich (trotz Angst vor Verhaftung)jedes Mal das starke Gefühl: das ist mein Land. Hier gehöre ich hin. "

    Treue zu Deutschland, Liebe zur Landschaft. Es ist unmöglich, sich in die Gefühlswelt von Boveri hineinzudenken, die trotz der Sichtbarkeit der Gewalttaten der Nazis, vom Röhmputsch bis zur sogenannten Reichskristallnacht 1938 und der Flucht vieler Bekannter nicht nur dablieb, sondern - ziemlich weit vorn mitmachte.

    Jeanne Hersch, der kopflastigen Kleinbürgerin wurde der Faschismus eine körperliche Erfahrung, als sie , die Jüdin, allerdings auch Schweizerin,1934 ein Semester bei Heidegger in Freiburg studierte.

    "Ich hatte keine Angst, niemand hat mir irgendwas getan. Aber als diese Einstimmigkeit, die ich um mich herum physisch gespürt hatte und alle Leute von dem Platz weg gegangen sind, da stand ich noch auf dem selben Ort und konnte mich kaum bewegen. Und da habe ich etwas erfahren: Dass das Totalitäre eigentlich nicht über den Kopf reinkommt, sondern irgendwie durch eine bestimmte Ansteckung des Körpers. "

    Boveri sah, hörte und fühlte nichts und emigrierte weder nach außen noch nach inne. Sie machte mit, teils wegen Abenteuerlust, Ehrgeiz und entsprechender Anpassungsbereitschaft, teils unter Rückgriff auf den ererbten deutschnationalen Habitus ihrer Klasse. Ihre Mischung aus politischem Konservatismus und sozialer Arroganz war mit dem Nazismus vollkommen kompatibel und auch noch nach 1945 lange reputierlich.

    Bald nach Kriegsende veröffentlichte Boveri 1947 ihre "Amerikafibel für erwachsene Deutsche". Ressentiments, denen sie in ihren späteren Büchern eine solide Unterlage zu geben suchte, werden hier schon klar. Mit der Fibel wollte sie, als Kennerin durch eine amerikanische Mutter und viele Reisen und Aufenthalte in den USA scheinbar ausgewiesene Autorin den auf Reeducation und Demokratie zielenden Missionsgeist der amerikanischen Befreier bloß stellen.

    "Die USA dünken sich etwas besseres, demokratischer, fortschrittlicher und freiheitlicher- aber sie sind es nicht. Wer sie nicht für die beste aller Nationen hält, berufen, anderen den Segen des Fortschritts zu bringen, den machen sie nieder."

    Jeanne Hersch war ebenfalls eine Vatertochter, womöglich noch ausgeprägter als Margret Boveri, deren Vater gestorben war, als sie 15 wurde. Und mit dem Unterschied, dass die Tradition, in die Hersch eintrat, mit ihren Prämien auf Bildung, Intellektualität und politisch- ethischen Verpflichtungen einfach - zukunftsweisender war. Kleinbürgerhabitus hin oder her...

    Bei einem Vergleich der Chancen, die beide Frauen hatten, muss man gerechterweise berücksichtigen, dass Hersch als Schweizerin und als Tochter ausgewanderter russisch-polnischer Juden es besser hatte. Im Unterschied zu Boveri verfügte sie weder über Motive noch Gelegenheiten, sich im Dritten Reich zu encanaillieren.

    "Mein Vater interessierte sich vor allem für soziale Probleme. Politisch gehörte er seit seiner frühesten Jugend der Bewegung an, die der Bund genannt wurde. Das war eine sozialistische Partei, die unter der jüdischen Bevölkerung Polens und Russlands all jene vereinte, die nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit strebten."

    Es war selbstverständlich, dass die junge Jeanne Hersch sich im Geiste dieser väterlichen Tradition politisch und sozial engagierte.

    Nach dem Holocaust erscheint der Tochter polnisch-jüdischer Migranten ihr beschütztes Leben in Genf, allem Engagement zum Trotz, als verfehlt, ein existenzielles Versagen.

    "Ich habe den Eindruck, diese Periode in einem Zustand erlebt zu haben, der fast eine Abwesenheit von der Welt war. Mein persönliches Leben fraß mich völlig auf, und das kann ich mir nicht verzeihen. Ich habe das Gefühl, meine Begegnung mit der Geschichte verpasst zu haben, als junge Erwachsene, die vollkommen fähig war zu handeln."

    Statt wie Hersch in der Atmosphäre eines Aufbruchs mit universalen Idealen, von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, wurde Boveri in der deutschen, nationalen Ständegesellschaft groß. Ihre Gesetze wurden in der Familie und ihrer Umgebung für so selbstverständlich und richtig gehalten wurden, dass über sie nie geredet, geschweige denn debattiert wurde.

    Weder Hersch noch Boveri haben eine Autobiografie geschrieben. Was als Ersatz bei den Recherchen nach den Motiven ihres Handelns und der Herkunft ihrer Ideen dienen muss, sind in beiden Fällen Gespräche, die die Genfer Philosophin Mitte der 80er-Jahre mit Gabrielle und Alfred Dufour und die Berliner Publizistin Margret Boveri mit Uwe Johnson zwischen 1968 und ihrem Tod 1975 geführt hat.

    Die Schweizer Interviewer, eine Philosophin und ein Juraprofessor, trafen mit ihrer Neugier den Nerv von Jeanne Hersch, die in der Schweiz ja nicht zuletzt wegen ihrer Vortragstätigkeit richtig populär war. Wobei sie ihre Vorträge meist nach wenigen Stichworten auf einem Spickzettel gewissermaßen zusammen mit den Zuhörern improvisierte.

    Das Gespräch, das Antworten auf Fragen und die Herausforderung durch Probleme, die sie nicht selber fand, sondern die ihr vorgelegt wurden, kurzum, die persönliche Beziehung und Kommunikation beflügelten Hersch, die von sich selber einmal sagte:

    "Ich bin in meiner Zeit eher eine Präsenz als der Autor eines Werks."

    Was so bescheiden klingt, entspricht aber durchaus der Essenz ihres philosophischen Denkens. Nach dem Ende der Metaphysik und aller dogmatischen ontologischen Systeme sollte das Philosophieren existenziell werden. Anders formuliert: Philosophie nach dem Ende der Philosophie ist der Reflexions- und Entscheidungszwang, den die Freiheit jedem Menschen auferlegt.


    In ihrem Jugendwerk, "Die Illusion - Der Weg der Philosophie", das die 26-jährige Hersch 1936 in Paris veröffentlicht hat, nahm sie Ideen vorweg, die Richard Rorty erst Jahrzehnte später neu formulierte. Während die Jaspersschülerin Hersch sich bei ihrer Anpassung der Philosophie an die Moderne noch des existenziellen, quasi anthropologischen Ausdrucks bediente, konnte Rorty, mit derselben Absicht, die Philosophie zeitgemäß zu machen, die Sprache der Kritik nutzen und die philosophische Tradition radikal historisieren.

    Wie der jungen Jeanne Hersch wurde dem jungen Richard Rorty Nihilismus vorgeworfen. Als ob diese Fans die Philosophie nicht neu erfinden, sondern vernichten wollten.

    Hersch war sich der Radikalität ihres genialischen Jugendwerks wohl bewusst, sodass sie es nicht als Doktorarbeit einreichte.

    "Wenn ich 'Die Illusion - Der Weg der Philosophie' nicht als Doktorarbeit vorgestellt habe, so, weil ich nicht wollte, dass jemand daran rührt. Ich habe es schon immer als unerträglich empfunden, nicht mit jemanden über meine Arbet zu diskutieren, sondern dass jemand in das eingreift, was ich geschrieben habe. Ich sagte mir: Da ich in dem Büchlein einen Gedanken ausgedrückt habe, der nicht orthodox ist- den Gedanken von der philosophischen Illusion- wird man seitens der Universität von mir verlangen, es zu ändern, bis es nicht mehr das aussagt, was es im Grunde aussagen soll. Ich habe also meine Doktorarbeit viel später geschrieben."

    Aber natürlich hat sie später auch nicht aus Karrieregründen promoviert, sondern wegen eines Problems, das sich ihr aufdrängte.

    "Ich fragte mich, welche Beziehung besteht zwischen dem, was ein Mensch tut, und dem Sein. Was kann der Mensch im Sein hervorbringen? Das Problem war dem in meinem Roman 'Begegnung' ziemlich ähnlich, (wo eine schwangere junge Frau ihrem fernen Ehemann brieflich ihre jugendliche Liebe zu einem viel älteren Mann erklärt)."


    Die aus Existenzialismus und Anthropologie gemischte Tonlage von Hersch mag manchen über die Aktualität ihrer Gedanken täuschen.

    Hatte Hersch für den Feminismus einer jüngeren Generation kein Sensorium, so lässt sich daran, wie sie ihre Philosophie praktizierte, etwas über die Konsequenzen des Eintritts der Frauen nicht nur in die Universität und andere Karrieren, sondern in die Geschichte erkennen.

    Trotz strengster Ansprüche an sich selbst und die Disziplin, die man gewählt hat, unter die Leute gehen. Die Hierarchien des männlichen Akademismus nicht allzu ernst nehmen. Bücher aus anderen Büchern zusammenschreiben, wie es die Prüfungsordnungen verlangen, ist dumm. Wichtig ist das lebendige Lehren, das aber den Schüler nicht überwältigt, sondern seine Freiheit voraussetzt.

    Jaspers tat das als wahrer Philosoph, anders als Heidegger, der sich in der Rolle des Magiers einrichtete ... Herschs Beitrag zur Philosophie besteht in einem prüfenden Durchgang durch ihre Geschichte, zum Nutzen der Gegenwart. Bescheiden vielleicht, praktisch und echt weiblich.

    Den vermutlichen Anlass für Boveri, ihre Erinnerungen auszuarbeiten und in Gesprächen wenigstens bis ins Jahr 1938 preiszugeben, lieferte Ende 1968 die Anfrage eines jungen Schriftstellers. Uwe Johnson, Jahrgang 1934, 1959 aus der DDR nach Westberlin übergesiedelt, hatte Boveris kommentierte Textdokumentation "Wir lügen alle - Porträt einer Hauptstadtzeitung" gelesen und versprach sich von ihr sachliche und methodische Hilfe bei seinen Versuchen, für ein Romanprojekt die Normalität der Nazizeit zu verstehen und angemessen darzustellen.

    Ein über das andere Mal beweist sie dem jungen Schriftstellerfreund und sich selbst, dass sie keine Judenhasserin war, obwohl die sachliche Einschätzung der Juden durch ihren Vater als Menschen, die zu abstraktem Denken neigen usw. usf. ihr nicht falsch scheint. Sie kannte Emigranten, Kommunisten und andere Radikale, hatte aber auch eine Freundin, die die Ermordung Rathenaus mit dem Satz kommentierte: "Für den war noch die Kugel zu schade" ... 1935 war sie für fünf Tage in Haft, weil ein Linker aufgeflogen war, der Beziehungen zu ihrer Zeitung hatte. Sie kam dann frei, und konnte stehenden Fußes die journalistische Begleitung einer Nazidelegation nach Griechenland wahrnehmen.

    Anders als die renommierte Publizistin und Buchautorin der jungen Bundesrepublik, mit zahllosen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften präsent es sich wohl gedacht hatte, bleibt sie in Erinnerung als die Verfasserin eines Buches, das sie fast nicht geschrieben hätte.

    "Sie wissen vielleicht nicht, dass ich bis zum Jahr 65 die Absicht hatte, das ganze liegen zu lassen und meinen Erben oder Nachlassverwaltern zu überlassen, was sie damit tun wollen. Stattdessen erschienen bei mir eines Tages die Herren Alexander Kluge und Hans Dieter Müller und wollten mich ausfragen im Bezug auf die Kapitulation in Berlin. Da sagte ich Ihnen, das alles habe ich aufgeschrieben und gab ihnen das Manuskript, welches in mehreren Fassungen exisitierte."

    Jeanne Hersch war so glücklich, ihr Familienerbe ohne moralische Einbussen und in Freiheit nutzen zu können. Margret Boveri dagegen blieb das Kind einer Kaste, die schon 1918 abgedankt hatte. Aber die "Tage des Überlebens" bleiben

    Der Bericht über das Ende der Reichshauptstadt Berlin zeigt Boveri, psychologisch gesehen, als Abenteurerin, die sie abzüglich ihrer lähmenden Herkunft eigentlich war, und unter professionellem, journalistischem Blick als eine großartige Reporterin, eine Augenzeugin ohne Furcht und Tadel.