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Freilerner
Keine Lust auf Schulpflicht

Schätzungen zufolge gehen in Deutschland etwa 1.000 Kinder nicht zur Schule. Das verstößt in Deutschland gegen das Gesetz, denn hier herrscht eine zehnjährige Schulpflicht. Eltern, die ihre Kinder nicht am Unterricht teilnehmen lassen, riskieren unter Umständen sogar das Sorgerecht.

Von Katrin Albinus | 28.09.2017
    Ein Baumhaus im Stil einer historischen Forscherhütte des Südamerika-Reisenden Alexander von Humboldt (1769-1859) ist am 12.03.2014 im Zoo von Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) zu sehen.
    Freilerner möchten lieber ihren Neigungen in Projekten nachgehen: ein Baumhaus bauen, einen Garten anlegen, ein Theaterstück einüben. (picture alliance / dpa / Jens Büttner)
    Ein Nachmittag auf einem Spielplatz in Leipzig. Hier toben sich die Kinder nach einem Schultag, an dem sie viel sitzen mussten, endlich aus. Dazwischen aber auch solche, die gar nicht in der Schule waren. Und auch nie eine besuchen sollen, finden ihre Eltern. Wie Fine, sie ist Mitte 20, ihr Sohn zwei Jahre alt.
    Fine: "Die gehen auch nicht in den Kindergarten, da fängt es schon an, das Drama. Weil ich ja kein Kind bekommen hab', um es dann irgendwo nicht aufwachsen zu sehen. Wir sind ja eine Familie und ich möchte mitbekommen, was ihm passiert, was er lernt und was er erlebt."
    Seit fünf Jahren gibt es in Leipzig eine Gruppe von Freilernern, 20 Familien zählen mittlerweile dazu. Die haben sich über Facebook kennengelernt und nutzen das Netzwerk auch, um sich zu organisieren: gemeinsam Veranstaltungen zu besuchen, ins Museum zu gehen, zum Lehmbaukurs oder auf den Spielplatz.
    Seit ein paar Wochen besucht auch Fine die Treffen. Sie möchte sich rechtzeitig darüber informieren, wie das geht: ein Leben ohne Schule.
    Die Gründe, sein Kind nicht in eine Schule zu schicken, sind vielfältig. Auslöser bei Fine ist die eigene Erfahrung, die sie ihrem Sohn ersparen möchten.
    Fine: "Ich muss mal so ganz salopp sagen, 99 Prozent der Sachen, die ich in der Schule gelernt hab', hab' ich nie wieder gebraucht, noch nicht mal in der Lehre, nicht im Arbeitsalltag, dann – also es ist einfach... verschwendete Zeit! Das klingt irgendwie militant oder so, aber es ist so."
    Das Theorie- und Fächerlernen lehnen Freilerner ab. Sie möchten lieber ihren Neigungen in Projekten nachgehen: ein Baumhaus bauen, einen Garten anlegen, ein Theaterstück einüben. Dabei würde man vieles nebenbei erlernen, vor allem Grundfertigkeiten wie lesen, schreiben, rechnen.
    Zwangsgelder, Beugehaft, Sorgerechtsentzug
    Fine, wie auch ihre Freundin Denise, möchten ihren Kindern eine Alternative zum schulischen Lernen anbieten. Und sie möchte vorbereitet sein, wenn es soweit ist, dass die Schulpflicht ruft. Denn Eltern, die dem nicht nachkommen, müssen mit Buß- und Zwangsgeldern rechnen, mit Beugehaft oder Sorgerechtsentzug.
    Denise: "Dadurch hatten wir auch immer den Gedanken, ja eventuell doch mal ins Ausland zu ziehen, aber jetzt hab' ich ehrlich gesagt, Mut gefasst, weil ich sehe, es geht irgendwie und hab' auch keine Angst."
    Den Familien wird es auf dem Spielplatz zu kalt, sie wechseln in den 'Rockzipfel' – ein Eltern-Kind-Büro, in dem die Freilerner-Gruppe sich regelmäßig trifft und Erfahrungen austauscht. Heike hat vier Kinder, zwei im schulpflichtigen Alter. Die weigern sich allerdings, in die Schule zu gehen. Monatelang versuchten die Eltern vergeblich, sie zum Schulbesuch zu bewegen.
    Das Sorgerecht entzogen
    Heike: "Schulpflicht heißt: Anmeldung der Kinder. Und Schulpflicht heißt, die Kinder in die Schule zu bringen. Der Anmeldung kann ich nachkommen. Aber meine Kinder in die Schule zu befördern, wenn die ausdrücklich sagen 'nein, ich will nicht, Schule – nein danke' - das ist schwierig."
    Die Schulpflicht, erklärt Heike, werde oft mit dem Hinweis auf eine mögliche Kindswohlgefährdung durchgesetzt – doch was, wenn der Zwang zum Schulbesuch selbst das Wohl der Kinder gefährdet?
    Heike und ihrem Mann wurde zwischenzeitlich das Sorgerecht teilweise entzogen und auf das Jugendamt übertragen. Doch das Oberlandesgericht in Dresden entschied schließlich, dass die Maßnahme unverhältnismäßig sei.
    Gelöst ist das Problem damit aber nicht. Denn Schulpflicht besteht weiterhin für die Kinder.
    Heike: "Viele sagen: Ihre Kinder tanzen ihnen auf der Nase herum. Das dürfte doch nicht sein. Aber es ist halt unser Menschenbild. Dass wir sagen, wir stehen halt komplett hinter eurer Entscheidung. Durch dieses Freilernen, durchs Tun, merkt man ja auch dass die Kinder sich super entwickeln, unsere Tochter hat ja gesagt 'Wenn ich möchte, dann kann ich ja einen Abschluss machen', dann kann sie ein halbes Jahr eine Schule besuchen, kann sich intensiv auf die Prüfung vorbereiten und kann natürlich dann auch eine Prüfung ablegen."