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Freischweifendes Fabulieren über die Normalität des Absurden

Schon sein Name kündigt auf Umwegen den Raubbau an, den Hans-guck-in-die-Luft Beat Stehle am Leben des jungen Programmierers Robert begehen wird. Kaum eingezogen in dessen Wohngemeinschaft - zunächst nur als Übergangslösung gedacht - übernimmt Stehle die Kontrolle über alles, was mit den Mitbewohnern zu tun hat. Das kann nicht gut enden - tut es aber doch: bedauert Rezensentin Sabine Peters.

Vorgestellt von Sabine Peters | 02.01.2009
    Das Leben des jungen Programmierers Robert verläuft übersichtlich: Er hat einen gut bezahlten Job in Hamburg, seine Freundin besucht ihn häufig, und in seiner Wohngemeinschaft gibt es keine Schwierigkeiten mit den anderen Bewohnern. Dieses unauffällige geregelte Dasein gerät aus der Bahn, als der Schweizer Beat Stehle in die Abstellkammer der WG einzieht. Nur für ein paar Tage will er bleiben, er sucht nur eine Übergangslösung. Stehle hat nichts und ist nichts – dafür schwadroniert und philosophiert er das Blaue vom Himmel herab. Stehle schleppt Hilfsbedürftige von der Straße an, damit die auch einmal duschen können, er leiht sich ungefragt die Wäsche seiner Mitbewohner aus und verschafft sich Zugang zu ihren Computern. Die Wohngemeinschaft zerfällt, nur Robert hält Stehle für einen lieben Kerl und fürchtet eher, vielleicht sei er selbst zu konventionell und spießig. Also bietet er Stehle ein Zimmer in seiner neuen Behausung an - und sein eigenes Leben gerät vollends aus der Kontrolle.

    Der neue Roman des 1967 geborenen und heute in Hamburg lebenden Schweizer Autors Andreas Münzner stellt einen Hanswurst, einen Hallodri, einen Hans-guck-in-die-Luft in den Mittelpunkt: Stehle ist eine literarische Figur, mit der man sympathisiert, vor der man aber in der Realität wohl eher davonlaufen würde. Der Hauch von Melancholie, mit dem das Buch beginnt, ist bald verflogen. Stehle ist nicht, wie man zunächst denken könnte, ein Nachfolger von Hermann Melvilles sanftem Verweigerer Barleby, diesem Eigenbrötler, der in eine Anwaltskanzlei einzog und mit dem Satz "Ich möchte lieber nicht" in die Weltliteratur einging. Stehle weigert sich zwar auch, gesellschaftlichen Anforderungen zu folgen, etwa einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen – nur kurzfristig war er "Mädchen für alles" in Roberts Firma – aber er praktiziert eben nicht den Rückzug, sondern verhält sich gelinde gesagt oft übergriffig. So findet Robert eines Tages sein Büro vollständig ausgeräumt vor und fragt sich, warum der Chef ihn so abrupt entlassen musste. Es war aber nur Stehle, der die Möbelstücke auslieh, um der Putzfrau der Firma ihren Herzenswunsch zu erfüllen: Einmal in ihrem Leben wollte sie auf dem Dach eines Hochhauses mit Blick auf den Hafen "Büro" spielen, sich selbst als Chefin am Designerschreibtisch inszenieren.

    Man ahnt bei diesem Roman sehr bald die Entwicklung: Der anfangs unbehauste Stehle wird in allem Charme und aller Unschuld dafür sorgen, dass Robert auf der Strasse steht, und nicht nur in einer Hinsicht: Schließlich ist der Job weg, die Freundin weg, die neue Wohnung von Fremden besetzt, selbst das Bett im Hotelzimmer wird von Stehle belegt.... Auch wenn diese Entwicklung absehbar ist, überzeugt Andreas Münzners Buch durch seine Feinarbeit: In kleinen unauffälligen Schritten erreicht der Autor, dass das Groteske und Absurde wie ein Stück Normalität erscheint. Man kann sich gut und gern vorstellen, dass Münzner beim Schreiben dieses Buchs vor sich hingelacht hat, etwa, als Stehle in großem Ernst beteuert, sein Leben in Ordnung zu bringen: Angefangen habe er damit, die Staubfusseln aus seiner Jacke zu schütteln – wie gut ihm das getan habe!

    Leider, leider stirbt dieser Luftikus von Stehle am Schluss, er stürzt von einer Brücke, und damit kann Robert zu einer neuen, wiederum geordneten Existenz finden. Warum muss das sein? Vielleicht, weil sich auch die Grenzüberschreitungen eines Stehle nicht endlos steigern lassen.

    Diese Figur ist zwar immer für eine Überraschung gut – aber letztlich hat man an Stehle keine Frage. "Fragwürdiger" im Wortsinn ist eigentlich Robert. Warum ist er so leicht aus der Bahn zu werfen? Woher rührt die Angst, bieder, kalt, berechnend und langweilig zu sein, und daher seine Bereitschaft, sich buchstäblich vor die eigene Haustür setzen zu lassen? Darauf gibt es in diesem Buch keine Antwort.

    In seinem Debütroman unter dem Titel "die Höhe der Alpen" erzählte der Autor eine Vater-Sohn-Geschichte; der Junge litt unter der Schweizer Wohlanständigkeit des gediegenen Elternhauses und träumte sich alles ganz anders. Nach einem Lyrik- und einem Prosaband jetzt also der Roman "Stehle": In diesem leise daherkommenden Buch verkörpert Robert deutsche Ordentlichkeit, und ausgerechnet ein Schweizer bringt Chaos in sein Leben. Sicherlich geht es dem Autor nicht um nationale Eigenarten, wenn es die denn überhaupt gibt. Aber in beiden Romanen werden Ordnung, Pragmatismus und Realismus konfrontiert mit Fantasie, Anarchie und Regellosigkeit. Robert scheint sein eigener Lebensentwurf nicht sonderlich verteidigenswert zu sein, und wenn er versucht, es Stehle gleichzutun und sich treiben zu lassen, dann passt auch das nicht, es ist nur eine Imitation, nicht das "Eigene".

    Soll man dem neuen Buch vorhalten, dass es die Problematik eines beliebigen, austauschbaren Lebens nicht weiter entfaltet? Dass es die Konfrontation, die es doch eröffnet, letztlich auf etwas indifferente Weise umgeht? Man könnte aber auch feststellen: Andreas Münzners Roman selbst hat in seiner Konstruktion, also auch in all seinen Umgehungen und Auslassungen den Charme und die Leichtigkeit des Helden Stehle. Es lässt sich nicht fassen und auf eine Aussage festnageln, sondern verlässt sich aufs freischweifende Fabulieren.

    Andreas Münzner: Stehle. Roman. Liebeskind-Verlag, 256 Seiten, Euro 18,00-