In der Widmung seines Romans Fremde Sterne an Truganini, der letzten Vertreterin der tasmanischen Aborigines, schreibt Anouar Benmalek deshalb von einem "perfekten Genozid". Und er verschont seine Leser nicht mit den grausamen Details.
Ich denke, da spielt die wissenschaftliche Seite in mir eine Rolle. Wenn ich Dinge sehe, beschreibe ich sie so, wie sie sind. Ich versuche die Tatsachen zu beschreiben, zumal wenn sie so grauenhaft sind wie in diesem Fall. Umschreibungen sind da zu nichts nütze. Wenn etwa der kleine Junge im Roman zusieht, wie seine Eltern aufgeschlitzt werden, regelrecht aufgeschlitzt, dann hat sich das in Wirklichkeit so zugetragen. Denn kurz vor Abschluss des Völkermords wollten die Museen Aborigines haben, tot oder lebendig. Und die beste Methode, die Körper der toten Aborigines zu konservieren, war, sie einzusalzen. Das war also wirklich so.
Vor der Küste Tasmaniens werden die beiden konservierten Leichen und der gefesselte Junge in das Schiff verladen, das Lislei und Kader nach Australien bringen soll. Beide haben einen hohen Preis für die Flucht aus der Strafkolonie bezahlt: er hat einen Mithäftling getötet, sie sich prostituiert. Der Anblick des verwirrten, hilflosen Jungen verändert alles. Denn er zeigt ihnen, dass der Kapitän vor nichts zurückschreckt. Für ihn wäre es sicherer, sich auch der beiden Ausbrecher zu entledigen, sobald er die Liebesdienste Lislei´s, die ihr Preis für die Überfahrt waren, nicht mehr nötig hat.
Wie nicht pessimistisch sein angesichts der menschlichen Natur, wenn man sieht, was alles passiert? Und gleichzeitig: Wie nicht manchmal optimistisch sein, wenn man sieht, dass die Menschen Dinge ohne Gegenleistung tun, Gesten der Güte. Das Schlimmste erstaunt mich nicht, und auch nicht das Beste. Ich würde sagen, jedes Volk ist imstande, der Barbarei zu verfallen. Man muß die Natur des Menschen immer fürchten. Prosper Mérimée sagte: Man darf nicht vergessen, sich vorzusehen. Wir behaupten, höherrangig zu sein. Doch die einzige Sache, die uns höherrangig macht, ist nicht die Intelligenz. Es sind die Gesten ohne Gegenleistung. Der Schwache, glaube ich, verdient es, beschützt zu werden.
Der Schwache in Anouar Benmaleks Roman "Fremde Sterne" ist das Waisenkind Tridarir. Doch die Annäherung fällt schwer. Zum einen hat der Aborigine-Junge keinen Grund, Lislei und Kader zu vertrauen - ähneln sie doch den Mördern seiner Eltern. Zum anderen wissen die beiden Ausbrecher, dass sie mit dem Kind im Schlepptau in Australien mehr auffallen, als ihnen ohne Papiere lieb sein könnte. Mit einem Wort: Tridarir ist die Probe aufs Exempel, wieviel Moral noch in den Flüchtigen steckt, wieviel Bereitschaft, im nackten Überlebenskampf auch für den anderen dazusein. Dass sich die meist zerstritten Lislei und Kader bei diesem Hindernisrennen der Gewissenskonflikte lieben lernen, verrät uns Anouar Benmalek bereits im Prolog. Denn nicht die Frage, ob sie sich kriegen, ist ihm wichtig, sondern die Beschreibung des wie. Und hier beweist Anouar Benmalek, im Brotberuf Dozent für Statistik, seine Klasse als Charakterzeichner, sein Gespür für die inneren Widersprüche und Sehnsüchte seiner Figuren, die er in bildstarken Rückblenden auf ihre Ursprünge zurückführt.
Der Roman Fremde Sterne hätte leicht in ein seichtes Lehrstück im Sinne der "political correctness" umkippen können. Doch so bewegend, ja anrührend manche Passage auch ist: Es gelingt Anouar Benmalek immer, die Fallschlingen des Moralinsauren und Kitschigen zu umgehen. Man könnte auch sagen: er verhilft dem heruntergekommenen Genre des Abenteuerromans zu neuem Ansehen. Denn sein Realismus ist so desillusioniert wie zupackend - gerade in der Zeichnung des alltäglichen Rassismus im Zeitalter des Kolonialismus, eines Rassismus, der durch alle Lager ging, wie Anouar Benmalek bei seinen Recherchen feststellen musste:
Das hat mich schon sehr erstaunt zu erfahren, dass sich die algerischen Aufständischen und die Kommunarden während des Kanaken-Austands in Neu-Kaledonien in ihrer Mehrheit mit der französischen Armee verbündet haben, um die Kanaken zu bekämpfen. Schließlich hatten doch beide für die Freiheit gekämpft und sehr viel Mut bewiesen. Doch das erste, was sie - mit Ausnahme einiger weniger - taten, war mitzuhelfen, die Kanaken wieder in ihre Schranken zu verweisen.
Wie unbestechlich Anouar Benmalek in seinem Roman Fremde Sterne beim Umgang mit den historischen Tatsachen ist, zeigt sich, als Kader darüber nachsinnt, ob er nicht besser wäre, Tridarir, den Aborigine-Jungen, zurückzulassen:
In wessen Augen würde er letztlich als feige "erkannt" werden? In denen dieses vor Leid ganz erschöpften schwarzen Spatzes? Aber was machte das schon für einen Unterschied für diesen kleinen Wilden, ein Unglück mehr oder weniger? In Algerien hatte seine Familie ja auch schwarze Sklaven aus dem Sudan gekauft, und niemand, Kader so wenig wie die anderen, hatte sich je um ihre Meinung gekümmert.
Dazu Benmalek:
Das ärgert mich manchmal an den Menschen aus dem Süden: diese Neigung, sich als Opfer zu sehen. Die Sklaverei ist in der arabischen Welt sehr lange üblich gewesen. Doch wenn man heute von Sklaverei spricht, fühlt sich dort niemand betroffen. Als in Frankreich über den 200. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei geredet wurde, sind die algerischen Zeitungen auf dies und das eingegangen, aber niemand hat bemerkt, dass in der eigenen Zivilisation lange Sklaven gehalten worden sind. Und das macht mich rasend. Ich glaube, alle Menschen ähneln sich: in Bosheit und Güte. So zu tun, als sähe man nicht, was die Geschichte der arabischen Welt hervorgebracht hat, dient der arabischen Welt nicht. Die arabische Welt muß erwachsen werden: "Ihr habt Sklaven gehabt?" - "Ja, wie die anderen auch!" - "Also seid auch ihr schuldig!" Diese Neigung, das Übel nur bei den anderen zu sehen, ist ein wenig charakteristisch für die arabische Welt.
Fremde Sterne auf die Formel eines Abenteuer- und Liebesromans zu reduzieren, wie die deutsche Verlagswerbung es tut, wird Anouar Benmalek jedenfalls nicht ganz gerecht. So eingängig und spannend der Roman auch geschrieben sein mag: wie in seinem Erstling "Die Liebenden von Algier" versteht es dieser Algerier mit französischem Paß meisterhaft, die menschliche Existenz in ihrer Brüchigkeit und in ihren Widersprüchen auszuleuchten.