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Fremdenfeindlichkeit
Angst vor einer komplizierten Welt

Eine aufgeheizte politische Stimmung, gesellschaftliche Spannungen und Fremdenfeindlichkeit: Leben wir in einer neuen Weimarer Phase? Das sei übertrieben, meinen Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung und der Schweizer Publizist Peter Studer. Den Ursprung der aktuellen Entwicklungen sehen sie in der Globalisierung.

Anetta Kahane und Peter Studer im Gespräch mit Peter Kapern | 25.02.2016
    Die neue Flüchtlingsunterkunft in Clausnitz
    Woher kommt die aktuelle Fremdenfeindlichkeit? (imago)
    Von Weimarer Zeiten zu fantasieren, halte sie für völlig übertrieben. Solche Äußerungen zielten darauf ab, eine hysterische Stimmung zu verbreiten, die aber nicht der Realität entspreche, sagte Kahane. Sie ist Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzt.
    Der frühere Chefredakteur des Schweizer Fernsehens, Peter Studer, sieht es ähnlich. Als Ursache für die Stimmung gegen Flüchtlinge sieht er grundlegende Ängste in der Bevölkerung, die jetzt instrumentalisiert würden. Die Schweiz sei in Europa und der Welt lange wie eine "Insel im Meer" gewesen. Doch dieses Bild und der damit einhergehende Wohlstand gerieten ins Wanken.
    Auch Kahane macht die Globalisierung und damit einhergehende komplexere Strukturen für solche Ängste verantwortlich. Positiv sei jedoch, dass Rassismus und rechtsradikale Tendenzen nicht unwidersprochen blieben. Die Willkommenskultur existiere weiter.

    Peter Kapern: Sprechen wir mit zwei Leuten, die sich gegen die Ausbreitung der Ausländerfeinde stemmen. In Berlin am Telefon Anetta Kahane, Journalistin und Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Guten Morgen.
    Anetta Kahane: Guten Morgen.
    Kapern: Und in Zürich am Telefon ist Peter Studer, auch er Journalist. Unter anderem war er viele Jahre lang Chefredakteur des Schweizer Fernsehens. Auch Ihnen einen guten Morgen, Herr Studer.
    Peter Studer: Guten Morgen!
    Kapern: Die erste Frage, die ich Ihnen stellen möchte - Frau Kahane, vielleicht fangen Sie an. In zwei Artikeln, die der Stimmung, der Atmosphäre in Sachsen und in der Schweiz nachgingen, wurde beide Male derselbe Vergleich bemüht. In beiden Artikeln wurde ein Vergleich gezogen zum Deutschland der 1920er und 30er-Jahre, wo die antidemokratische und die antisemitische Stimmung immer mehr geschürt wurde und immer mehr normale Bürger zu Mitläufern und Claqueuren wurde. Was halten Sie von diesem Vergleich, Frau Kahane, wenn Sie auf die Situation in Deutschland, in Sachsen schauen? Klingt das für Sie plausibel?
    Kahane: Nein, das klingt für mich überhaupt nicht plausibel. Noch ist der Rechtsstaat intakt. Der gerät tatsächlich ab und zu aus dem Takt, das ist richtig, und Polizei und Justiz nehmen da ihre Verantwortung nicht wirklich wahr. Gerade in Sachsen ist das so. Aber das ist kein allgemeines Phänomen für Deutschland. Die Weimarer Zeit, sich zu fantasieren in dieser Situation, halte ich für total übertrieben.
    Wissen Sie, es gibt eine Strategie, die von diesen ganzen rechten Kräften ausgeht, die darauf zielt, wirklich eine hysterische Stimmung zu verbreiten, und ich sehe das nicht. Ich sehe nicht, dass das wirklich die Realität ist. Es gibt eine Psychopathologie darüber, wie schlimm das jetzt gerade alles ist, aber es entspricht nicht der wirklichen Realität. Abgesehen von den Fällen, die wir kennen und die wir auch beschreiben können, kann ich nicht sagen, dass das jetzt hier wie die 20er-Jahre ist.
    "In der Schweiz geht es nicht um eine Pöbelherrschaft, sondern um eine heikle Volksabstimmung"
    Kapern: Sie relativieren ein wenig die Ausmaße dieser Bewegung, die ich da gerade beschrieben habe. Herr Studer, wie erleben Sie das in der Schweiz, wenn Sie sich so wenige Tage vor diesem so wichtigen Referendum umhören auf der Straße in Ihrer Heimatstadt? Welche Atmosphäre erleben Sie da? Halten Sie einen solchen Vergleich für tragfähig?
    Studer: Ein Schweizer Bundesrichter, ein amtierender Bundesrichter hat diesen selben Vergleich auch gemacht in einem Gastbeitrag in einer Zeitung. Ich halte ihn auch hier für übertrieben. In der Schweiz ist ein gewisser Verfassungsradikalismus nach rechts hinaus zu spüren, aber es geht nicht um eine Pöbelherrschaft, sondern um eine sehr heikle Volksabstimmung.
    Kapern: Gleichwohl: Auf beiden Seiten der deutsch-schweizer Grenze erleben wir wie in so vielen anderen Ländern des Westens gerade dieses Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit, der Xenophobie. Können Sie vielleicht, Herr Studer, auf den Punkt bringen, was das Gemeinsame, was die gemeinsame Ursache dieser Entwicklung sein könnte?
    Studer: Ich halte eine gemeinsame Ursache für ziemlich zentral. Es sind Ängste entstanden in weiten Bevölkerungskreisen, vor allem auch wegen der jetzt andauernden Völkerwanderung, ohne dass das kanalisiert werden kann einerseits. Und andererseits gibt es Kräfte, die diese Ängste in der Bevölkerung politisch instrumentalisieren. Das sind die National-Rechtsparteien.
    "Die Leute spüren, dass Europa nicht mehr der Nabel der Welt ist"
    Kapern: Frau Kahane, sehen Sie ähnliche Ursachen in Deutschland, eine ähnliche Analyse?
    Kahane: Ja, aber ich würde jetzt nicht sagen, [dass es so stark ist]. Die Flüchtlinge sind so eine Art Katalysator. Ich glaube, sie sind nicht die Ursache. Und ich würde auch nicht von Völkerwanderung sprechen, sondern ich würde sagen, das sind Begleiterscheinungen einer tiefen Krise, die vor allen Dingen Europa trifft, im Zusammenhang mit der Globalisierung. Und ich habe das Gefühl: ich glaube ja, Ängste sind da und es gibt auch viel Aufregung. Die Leute spüren, es ist eine neue Zeit. Auf einmal kommt sozusagen die Wahrheit der Welt nach Europa. Ich habe immer gesagt, im Grunde ist Deutschland - und das ist vielleicht in der Schweiz ähnlich - nicht wirklich ehrlich mit der Situation. Es spiegelt sich die Lage der Welt nicht in der eigenen Gesellschaft. Es ist ein idyllisches Privileg, in einer relativ stabilen und relativ satten Demokratie zu leben und "verschont" zu bleiben von den Folgen der Globalisierung und der ganzen Konflikte in der Welt, und das ändert sich jetzt. Die Leute spüren, dass Europa nicht mehr der Nabel der Welt ist und dass man sich vor dieser Art von globaler Gesellschaft gar nicht mehr schützen kann. Es bringt die Vorteile, es bringt aber auch die Herausforderung, und ich glaube, das ist etwas, was die Europäer ganz schlecht verkraften, dass sie sozusagen nicht mehr geschützt sind durch das Privileg, als der weiße Westen, der Ort des Wohlstands und der Demokratie, der Menschenrechte für sich die Augen davor verschließen zu können, was mit dem Rest der Welt geschieht.
    Studer: Ich würde Ihnen zustimmen, liebe Kollegin, dass die Erkenntnis sich verbreitet, dass man sich nicht schützen kann gegen diese Entwicklung. Auf der anderen Seite vertieft es die Unsicherheit und die Anfälligkeit, weil niemand mit einer gewissen Überzeugung sagen kann, was tun.
    Kahane: Ja. Das ist aber eine Zeit, die uns bevorsteht, von der ich den Eindruck habe, diese einfache Antwort darauf, was man tun kann, die wird es so nicht mehr geben. Wenn wir sagen, die Welt ist komplexer geworden - und sie ist ja nicht unbedingt schlechter geworden. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen, die Globalisierung ist furchtbar und bringt auch für den Rest der Welt nur Nachteile. Im Gegenteil! Ich glaube schon, dass sehr viel Bewegung ist und sehr viel Aufwärtsbewegung auch überall, in allen möglichen Kontinenten, und dass das sozusagen eine Art von Amalgam bildet, wo das europäische Privileg der Nachkriegszeit, in Frieden, Ruhe und Wohlstand zu leben, sich langsam auflöst.
    Kapern: Frau Kahane, Herr Studer, ich würde da gerne noch mal einen Punkt rausgreifen und etwas zuspitzen vielleicht. Eben habe ich das Argument gehört, die Leute merken, man kann sich nicht mehr schützen vor den Änderungen in der Welt, vor der Welt. Aber durch die Offenheit dieser Welt gegenüber haben wir ja den Wohlstand erworben, um den jetzt die Menschen angeblich fürchten. Warum stoßen die Leute, die so stark gegen Ausländer eingestellt sind, nicht auf diesen Widerspruch, Herr Studer?
    Studer: Ich meine, eine Regierung ist dazu da, in schwierigen Situationen zu steuern und Lösungen aufzuzeigen, und das ist im Moment nicht der Fall, scheint mir, in der Schweiz sicher nicht. Wir haben uns als Wohlstandsinsel in Europa eine lange Zeit behauptet, ohne dem organisierten Europa wirklich anzugehören. Wir waren eine Insel im Meer und diese Haltung mit einer Abwehr der Europäischen Union als ein zentrales Moment, die beginnt jetzt erschüttert zu werden. Und es weiß in der Hauptsache wirklich niemand, was zu tun wäre, ob man die Grenzen öffnen solle - diese Stimmen gibt es auch - und darauf vertrauen, dass sich das irgendwie justiert, oder ob man die Grenzen noch mehr schließen soll. Da ist im Moment nicht viel zu holen. Ich denke auch an Frau Merkels Willkommenseuphorie vor einigen Monaten. Die ist jetzt auch, glaube ich, weggelegt. Aber wie geht es weiter? Diese Unsicherheit vertieft die Ängste und ich glaube, da kommt vor der Hand noch viel auf uns zu. Die Schweiz hat natürlich mit einer Arbeitslosigkeit von drei Prozent während Jahren sich sehr gut aus der Affäre gezogen und jetzt wird es langsam kritisch, weil nicht nur von außen her unkontrollierbare Kräfte oder schlecht kontrollierbare Kräfte eindringen, sondern weil auch die Wirtschaft zu leiden beginnt und die Exporte sich reduziert fühlen, die Exporteure sich reduziert fühlen und die Arbeitslosigkeit steigt, und ich glaube, das sind zum Teil neue Ängste, die die alten Ängste noch vertiefen.
    "Die Willkommenskultur rüttelt sich gerade auf ein arbeitsfähiges Maß zurecht"
    Kapern: Frau Kahane, aus der Schweiz hören wir, dass in den letzten Wochen möglicherweise die Stimmung vor diesem so wichtigen Referendum gedreht worden ist, dass dieses Referendum, dieses Verlangen, nun noch viel rigoroser kriminelle Ausländer abzuschieben, möglicherweise keine Mehrheit bekommt, weil sich dort viele Menschen gegen dieses Referendum engagiert haben so wie Herr Studer. Dieses Engagement, sehen Sie das in Deutschland eigentlich auch gegen die grassierende Ausländerfeindlichkeit, oder ist Ihnen das noch viel zu schwach?
    Kahane: Na ja, ich würde sagen, es geht ja nicht um Ausländer, sondern es ist eigentlich Rassismus, um das es geht. Es geht ja um einen bestimmten Typus von Ausländern oder von Leuten mit Migrationshintergrund, egal ob die jetzt einen deutschen Pass haben oder nicht. Dieses muss man dann auch klar benennen. Ich glaube, es ist eines der Probleme, dass wir in Deutschland zumindest haben. Es ist nie wirklich über Rassismus gesprochen worden. Es wurde aber immer ein ideologischer Kampfbegriff und das war immer ein Vorwurf der Linken so ganz generell gegen den Staat und so. Aber das, was es konkret bedeutet und was es für die Institutionen, für die Strukturen, die staatlichen und auch die gesellschaftlichen Strukturen bedeutet, da hat sich Deutschland noch nicht wirklich rangewagt.
    Aber jetzt zu Ihrer Frage, ob es Gegenkräfte gibt. Natürlich gibt es die und ich glaube auch nicht, dass diese Willkommenskultur vorbei ist. Im Gegenteil! Ich glaube, sie rüttelt sich gerade auf ein arbeitsfähiges Maß zurecht, und das, was ich sehe, ist, dass es an sehr, sehr vielen Orten, überall wo wir auch immer hinschauen, tolle Leute gibt, die sich sehr, sehr engagieren, die Flüchtlinge unterstützen, mit den Flüchtlingen zusammenarbeiten, da wirklich eine neue Art von Gesellschaft entsteht. Übrigens besonders im Osten Deutschlands, wo es ja kaum Migration gibt oder kaum Migranten gibt, da entsteht was ganz Neues. Wir schauen jetzt immer sehr zurecht natürlich auf die Anschläge und auf die aggressiven Stimmen, aber dabei sollte man das andere nicht übersehen. Und das sage ich nicht nur aus Kitsch, sondern weil es wirklich so ist. Ich kann einen direkten Vergleich ziehen zu den 1990er-Jahren, als es schon mal sehr flüchtlingsfeindliche Stimmungen gab und kaum Gegenwehr, und jetzt haben wir da eine Gesellschaft, die da wirklich Verantwortung übernimmt.
    Kapern: Herr Studer, ganz kurz noch zum Schluss. Glauben Sie, dass das Engagement von Bürgern, so wie Sie das gezeigt haben in letzter Zeit, dazu führt, dass sich die ausländerfeindliche Stimmung in der Schweiz, die Ausbreitung stoppen lässt und dieses Referendum anders ausgeht, als man noch vor wenigen Wochen gedacht hat?
    Studer: Man muss hier einfach immer den institutionellen Rahmen sehen. In der Schweiz gibt es diese Volksinitiative und die nationalkonservative Volkspartei, heute die stärkste Partei der Schweiz, hat in den letzten Jahren sich dieser Volksinitiative bedient mit immer radikaleren Vorschlägen, über die dann aber abgestimmt werden musste.
    Kapern: Herr Studer, sagen Sie uns noch ganz kurz vor den Nachrichten: Was denken Sie, wie wird das Referendum ausgehen am Sonntag?
    Studer: Ja ich hoffe natürlich, ich kreuze meine Finger, dass das Referendum, dass die Volksinitiative der Volkspartei abgelehnt wird, und ich habe selber mitgeholfen, einen Aufstand der Zivilgesellschaft zu mobilisieren, außerhalb von Parteien, und das ist uns ein Stück weit vielleicht gelungen.
    Kapern: Peter Studer, der frühere Chefredakteur des Schweizer Fernsehens. Danke Ihnen, danke nach Zürich. Und danke auch nach Berlin. Danke an Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Ihnen beiden einen guten Tag. Danke, dass Sie Zeit für uns hatten heute Früh.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.