Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Freuds früherer Kronprinz

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts avancierte der Schweizer Psychologe und Psychiater Carl Gustav Jung zum Kronprinzen Sigmund Freuds. Nach dem Bruch mit seinem Mentor und der Anbiederung bei den Nationalsozialisten schwand der Nimbus seiner Psychologie weitgehend.

Von Hans Martin Lohmann | 06.06.2011
    Als Carl Gustav Jung, populärer unter dem Namenskürzel C.G. Jung, am 6. Juni 1961 in dem Städtchen Küsnacht am Zürichsee starb, hinterließ er ein geistiges Erbe, dessen Substanz bereits zu seinen Lebzeiten alles andere als unumstritten war. Der 1875 geborene Schweizer Pfarrerssohn hatte seit dem Ersten Weltkrieg ein ebenso weitläufiges wie vages psychologisches Lehrgebäude errichtet. Der spirituell-religiöse Habitus der Jungschen Psychologie erinnert in ihrer intellektuellen Harmlosigkeit weit mehr an die Empfehlungen aus dem Umfeld der Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur als an Wissenschaft. Indem sie Literatur, Mythologie, Religion, Völkerkunde und Okkultismus mit einer Theorie der Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zusammenwirft, nährt sie ein spekulatives Potenzial, das durch nichts eingegrenzt wird. Folgende Äußerung Jungs etwa ist weder überprüfbar noch nachvollziehbar:

    "Das 36. Jahr ist für viele Männer ein sehr kritisches Jahr, weil da eine große Veränderung stattfindet, von der er nichts weiß, nämlich, die Sonne wendet sich zum Abstieg, und dann kann sich seine Weltanschauung in einer merkwürdigen Weise verändern, also nehmen Sie zum Beispiel Nietzsche, da kommt der Zarathustra."

    Seine Karriere begann Jung im Jahre 1900 als vielversprechender junger Psychiater bei Eugen Bleuler an dessen bekannter Klinik "Burghölzli" in Zürich, wo er 1902 auch promoviert wurde. 1905 wurde er mit einer Schrift über "diagnostische Assoziationsstudien" habilitiert. Als er zwei Jahre später den Wiener Arzt und Psychologen Sigmund Freud kennenlernte, wandte er sich immer stärker von Bleuler ab und wurde einer der frühesten Anhänger der Freudschen Schule. Freud erhob ihn alsbald zu seinem "Kronprinzen". Mit seinem Segen avancierte Jung zum ersten Präsidenten der soeben gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.

    Umso schmerzhafter war der Bruch zwischen dem faktischen und dem designierten Schuloberhaupt der Psychoanalyse, als Jung 1912 seine Schrift "Wandel und Symbole der Libido" veröffentlichte, in welcher er sich demonstrativ von der Freudschen Sexualtheorie distanzierte. Er verwarf auch Freuds für die Psychoanalyse grundlegendes Werk "Die Traumdeutung". Während Freud im Traum ein Medium der Verarbeitung von Triebkonflikten und verpönten Wünschen sieht, erklärt Jung den Traum als jenen Ort, an dem es um Weichenstellungen und "Wahrsagungen" im Hinblick auf die Zukunft des Individuums geht.

    "Meine Ansicht unterscheidet sich natürlich in dieser Hinsicht gewaltig von der ursprünglichen Auffassung Freuds, wo Träume hauptsächlich auf unerfüllte Wünsche zurückgehen, die nachts gewissermaßen ventiliert werden."

    Jungs Behauptung der psychischen Existenz von sogenannten Archetypen, Urbildern wie "Animus" und "Anima", "die große Mutter" und das "Mandala", die kultur- und zeitunabhängig in jedem Individuum anzutreffen seien, trennt ihn von der Freudschen Psychoanalyse ebenso radikal wie seine Annahme von einem kollektiven Unbewussten.

    Als die Nationalsozialisten 1933 die psychologischen Fachgesellschaften in Deutschland gleichschalteten und deren jüdische Mitglieder ausschlossen, war sich Jung nicht zu schade, gar von einem "jüdischen" und einem "arischen" Unbewussten zu sprechen und sich so den Nazis als Hofpsychologe anzudienen – und gleichzeitig den Juden Freud zu erledigen.

    Die Psychologie C.G. Jungs hat keine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, was das Unbewusste sei. Alles bleibt im Ungefähren und Unverbindlichen, es gibt keinen Anhaltspunkt für eine wie immer geartete Rationalitätskontrolle. Was Jung als Lehrer und Therapeut zu bieten hat, ist "Erfahrung":

    "Der Therapeut steuert ... darauf hin, dass eine Situation gefunden wird beim Patienten, die unlösbar ist, ... Das ist nun eine günstige Zuspitzung der Situation, in der nämlich das Unbewusste anfängt, zu funktionieren. Dann kommt ein Traum, aus dem man dann etwas schließen kann, was weiterführt. Das sind Situationen, wo eben religiöse Träume auftreten oder von weitreichender Bedeutung, was die Primitiven die 'großen Träume' nennen."