Von Guatemala Richtung USA

Keine Ankunft, keine Wiederkehr

23:56 Minuten
Die Mutter vor dem Altar ihres Sohnes.
In den USA zu arbeiten, war sein Traum: Marvins Mutter hat einen kleinen Altar für ihren verstorbenen Sohn errichtet. © Deutschlandradio / Anne Demmer
Von Anne Demmer · 02.08.2021
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Die wachsende Migration aus Mittelamerika fordert die US-Regierung heraus. Vizepräsidentin Kamala Harris gab in Guatemala den Rat: "Don't come!" - Kommt nicht! Doch die lebensgefährliche Reise ist für Jugendliche dort oft die einzige Alternative.
Gegen drei Uhr nachts ging es los – an einem Tag im Januar. Marvin Alberto Tomás López hatte nur einen kleinen Rucksack dabei mit einer Hose, einem T-Shirt zum Wechseln und einem Paar Ersatzschuhe, erinnert sich seine Mutter Ángela.
"Mein Sohn wollte in den USA arbeiten, um uns ein kleines Stück Land zu kaufen und ein Haus für uns darauf zu bauen. Das war sein Traum, deswegen wollte er dort hin. Ich erinnere mich noch an die Nacht, als er ging. Er hat sich noch gewaschen."

Getötet und verbrannt kurz vor dem Ziel

13 Bewohner aus Comitancillo hatten sich gemeinsam aufgemacht, wollten ihr Glück in den USA versuchen – die meisten von ihnen um die 20 Jahre alt, doch auch drei Minderjährige – 15 und 16 Jahre alt – wurden von ihren Eltern zum Treffpunkt mit dem Schlepper gebracht.
In dieser Nacht ließ Marvin seine Familie in dem kleinen Haus zurück, sein Trikot, den Fußball. Er spielte leidenschaftlich gerne. "El Zurdo", Linksfüßer, wurde er genannt. Er hatte Talent, er spielte mit seinem Verein in der dritten Liga von Guatemala. Doch damit ließ sich kein Geld verdienen, auf das die Familie angewiesen ist.
Er musste sich ein Zimmer mit seiner Mutter und einer weiteren kleinen Schwester teilen. Auf einer Matratze auf nacktem Lehmboden hat er dort geschlafen.
"Ich werde dir Geld schicken, hat er zu mir gesagt," erinnert sich seine Mutter. "Er ist der einzige Sohn, der für die ganze Familie gesorgt hat. Er hat sich immer um alles gekümmert, auch um den Mais auf dem Feld. Mama, mach Dir keine Sorgen. Ich werde in den USA schon überleben und dir Geld schicken. So hat er sich verabschiedet, als er ging."
Marvin Alberto Tomás López war 23, als er in Mexiko auf seinem Weg in die USA umgebracht wurde. Wie es dazu kam, die genauen Umstände, sind nach wie vor unklar.
19 Migrantinnen und Migranten, unter ihnen die 13 aus der Gemeinde Comitancillo, wurden am 22. Januar kurz vor ihrem Ziel, an der Grenze zu den USA, getötet und danach in den zwei Fahrzeugen, in denen sie unterwegs waren, verbrannt.
Marvins Mutter hat einen kleinen Altar für ihren Sohn errichtet. Neben seinem Bild brennt eine Kerze. Die Familie hat ein kleines Stück Land gepachtet, dort baut sie Mais an, um sich selbst zu versorgen. Sie haben ein paar Hühner, die vor dem Haus herumlaufen, und Ziegen. Strom gibt es nicht.

Es ist die einzige Chance

In der Gemeinde Comitancillo, im Hochland der Sierra Madre von Guatemala, wohnen rund 60.000 Menschen, 90 Prozent von ihnen leben wie Ángela in Armut, 26 Prozent in extremer Armut, sie haben nicht jeden Tag zu essen.
Kinder spielen vor Häusern in Comitancillo.
Kinder in Comitancillo: Mangelernährung ist in ländlichen Gegenden Guatemalas ein schwerwiegendes Problem.© Deutschlandradio / Anne Demmer
An diesem Tag bekommt Ángela Besuch von José Luis Gónzalez vom jesuitischen Netzwerk für Migranten in Guatemala. Er kümmert sich um die Hinterbliebenen des Massakers. Er erklärt, warum selbst dieses Verbrechen keine abschreckende Wirkung hat.
"Hier in Comitancillo gibt es keine Arbeit. Es wird Mais angebaut, ein kleines bisschen Bohnen, das ist die Grundversorgung. Aber es nicht genug, um es zu verkaufen. Damit wird nichts erwirtschaftet, um beispielsweise Medizin zu kaufen, Kleidung, Extrakosten zu decken. Es gibt kein Einkommen."
Unterernährung ist ein schwerwiegendes Problem. Laut UNICEF sind in ländlichen Regionen Guatemalas rund 80 Prozent der Kinder mangelernährt.

Und manche schaffen es eben doch

Unweit der ärmlichen Lehmhaussiedlung ohne Elektrizität und meist auch ohne fließendes Wasser, sticht ein weiß getünchtes Haus aus Stein hervor. Häuser wie dieses sind ein Zeichen dafür, dass es ein Sohn, eine Tochter bis in die USA geschafft hat.
Sie haben die Grenze erfolgreich überquert und Arbeit gefunden, erklärt José Luis Gónzalez. "Die Menschen sehen, wenn sie migrieren, dass sie sich dann ein solches Haus leisten könnten, so eines, wie wir dort sehen. Solche Häuser werden mit dem Geld gebaut, das Angehörige aus den USA schicken."
Blick auf weiß getünchtes Haus
Ein Haus sticht hervor: Das Geld dafür kam von Familienangehörigen in den USA, erklärt José Luis Gónzalez.© Deutschlandradio / Anne Demmer
Viele suchen für den über 2000 Kilometer langen Weg in den Norden einen Schlepper.
David Coronado hat zwei Söhne, die bereits in den USA leben, sein Sohn Adán sollte folgen, auch er ist unter den 13 Opfern aus Comitancillo.
"Der Schlepper ist nicht der Schuldige, der Schuldige ist der Staat, der keine Antworten auf die Probleme der Menschen findet. Es gibt keine Möglichkeiten, um zu arbeiten, was verhindern würde, dass die Menschen in die USA gehen", sagt er. "Das ist ungerecht vom Staat. Der Staat sagt, dass der Schlepper einfach nur den Leuten das Geld aus der Tasche zieht. Aber so sind nicht alle."
Rund 13.000 Dollar nehmen die Schlepper mittlerweile, ohne Erfolgsgarantie. Um das bezahlen zu können, verschulden sich die Familien, beleihen ihr Land, oder verkaufen das wenige was sie haben. Gelingt das Unternehmen nicht, stürzt es die ganze Familie ins Unglück.

Die anhaltende Migration aus Guatemala, Honduras und El Salvador ist zum Schreckgespenst für die USA geworden. Dabei sind die Fluchtursachen seit Jahrzehnten die gleichen. In ihrem Mittelamerika-Schwerpunkt berichtet die "Weltzeit" über die aktuelle Lage, schildert Einzelschicksale und beleuchtet historische Entwicklungen und Abhängigkeiten. Hier die weiteren Sendungen:
Dauerkrise in Honduras – Korruption, Kokain und Klimawandel
Reich und Arm in El Salvador – Mit Bitcoins gegen Ungleichheit
US-Politik in Mittelamerika – Außer Spesen nichts gewesen

Aber es sind die Erfolgsgeschichten, die vor allem Jugendliche aufbrechen lassen. Viel nehmen sie dafür auf sich: einen gefährlichen Weg durch Regionen, die von konkurrierenden Drogenkartellen, korrupten Polizisten beherrscht werden. Immer wieder ist die Rede davon, dass die Grenze weiter in den Süden rutscht, die Mauer zwischen Guatemala und Mexiko hochgezogen wird – mehr Sicherheitskräfte werden dort hingeschickt, die die Migrantinnen und Migranten dort bereits abfangen sollen.

30 Euro Schmiergeld an der Grenze

Der mexikanische Ort Ciudad Hidalogo ist der Grenzort, wo die Migrantinnen und Migranten aus El Salvador, Honduras oder Guatemala an Land gehen, wenn sie erfolgreich den Grenzfluss Rio Suchiate überwinden. Es ist gegen 7.00 Uhr am Morgen, die Sonne brennt bereits auf die Sicherheitskräfte des Militärs herunter, die in ihren Tarnanzügen breitbeinig am Ufer stehen.
In diesem Moment nähert sich ihnen eine Familie, die von einem Floss aus Autoreifen und Holzlatten an Land geht, zwei Erwachsene, ein Kind – ein junger Mann hat sie herüber gerudert. Es gibt einen kurzen Wortwechsel mit den Männern des Militärs, dann läuft Diamara mit ihrer Familie, ihrem Bruder und ihrem Sohn zügigen Schrittes Richtung Straße, die ins Zentrum von Ciudad Hidalgo führt. Sie seien aus Honduras, erzählt sie, ohne anzuhalten.
Zwei Personen stehen auf einem von drei Flößen am Ufer des Rio Suchiate.
Der Rio Suchiate an der Grenze zu Mexiko: Einfache Flöße dienen dazu, ihn zu überqueren.© Deutschlandradio / Anne Demmer
"Wir haben der Nationalgarde die Wahrheit gesagt. Wir wurden in unserer Heimat von kriminellen Banden bedroht, die Situation ist furchtbar. Gott sei Dank haben sie unsere Situation verstanden. 300 guatemaltekische Quetzales haben wir pro Person bezahlt."
Das erzählt sie nur zögerlich, ins Detail will sie nicht gehen. Umgerechnet rund 30 Euro pro Person, das war das Schmiergeld für die Sicherheitskräfte.
Solche Szenen beobachtet Juan, der seinen richtigen Namen lieber nicht nennen will, täglich. Er betreibt einen kleinen Kiosk direkt am Fluss. Er döst auf einer Holzbank, reibt sich die Augen.
"Täglich kommen hier um die 100 Migranten rüber. Mal sind es fünf, mal sind es zwei, mal sind es vier. Sie kommen in kleinen Gruppen. Wenn sie alle zusammen, in einer großen Gruppe rüberkämen, dann würden sie sofort verhaftet", erzählt er.
"Sie bezahlen die Sicherheitskräfte. Sie bekommen alle hier Bestechungsgeld. Die Migrationsbehörden haben gar kein Interesse daran, die Migranten mitzunehmen, das kostet sie viel zu viel Zeit, der ganze Papierkram, dann müssen sie mit ihnen zum Arzt, deswegen arrangieren sie sich lieber auf diese Art und Weise."

Drogenkartelle kontrollieren die Route

Auch für die 13 Migrantinnen und Migranten aus Comitancillo war die Grenze zwischen Guatemala und Mexiko keine Hürde. Sie haben es bis hoch in den Norden geschafft, nach Tamaulipas. Aber der mexikanische Bundesstaat unmittelbar an der Grenze zu den USA ist immer wieder Schauplatz brutaler Gewalt: Drogenbanden, die die Polizei bestechen, Entführungen und Mord.
In das Verbrechen an den guatemaltekischen Migranten sollen 12 Polizisten und sogar zwei Mitarbeiter der Migrationsbehörde verwickelt gewesen sein.
Grenzpatrouille an der mexikanischen Grenze.
Patrouille an der mexikanischen Grenze: "Täglich kommen hier um die 100 Migranten rüber", erzählt ein Kioskbesitzer.© Deutschlandradio / Anne Demmer
Der 23-jährige Fußballer Marvin Alberto Tomás López, auf den die ganze Familie ihre Hoffnung gesetzt hat, hielt auf seiner Reise regelmäßig Kontakt zu seinen Liebsten im Dorf Comitancillo.
"Macht Euch keine Sorgen, mir geht es gut"– das war die letzte Nachricht, die seine Geschwister über WhatsApp bekamen, erzählt Marvins Mutter Ángela.
Wann sie von seinem Tod erfahren hat, kann sie nicht mehr genau sagen, die Erinnerung verschwimmt. Als der Familie die Reste von der Staatsanwaltschaft übergeben wurden, hat sie sich geweigert sie anzusehen – von ihrem Sohn war nur noch die Asche übrig.
"Wir haben es nicht ausgehalten. Wir wollten seinen Tod nicht akzeptieren. Wir haben die Urne gar nicht erst geöffnet", sagt sie.
Die Gemeinde hat eine Trauerfeier für die 13 jungen Menschen abgehalten. Im Fußballstadion – dort wo sich Marvin in seiner Freizeit am liebsten aufgehalten hat.

"Ich würde auch gehen, wenn ich könnte"

Auch Mónica Aguilón saß auf der Tribüne, als sich der Ort von den 13 verabschiedet hat. Sie trägt einen langen traditionellen schwarzen Rock und eine bunt bestickte Bluse. Sie gehört der indigenen Gemeinde der Mam in Comitancillo an. Wie Marvin hat sie oft daran gedacht, den Ort zu verlassen.
"Hier gibt es keine Hoffnung, selbst wenn man es in Guatemala-Stadt versuchen will, dafür braucht man ein Budget, denn auch dort benötigt man Geld. Die Leute, die in die Vereinigten Staaten migrieren, verkaufen ihr Land oder nehmen einen Kredit auf und auch das ist ein großes Risiko, sie nehmen Schulden auf", sagt sie.
"Wie sollen sie das dann zurückzahlen, wenn sie nicht rüberkommen. Ich persönlich habe kein Grundstück, kein Land, meine Eltern auch nicht. Auch wir wären gerne gegangen, aber wir hätten auch keinen Kredit bekommen. Diejenigen, die es geschafft haben, können sich glücklich schätzen, wenn sie einen Schlepper bezahlen und den Ort verlassen können."
Von der guatemaltekischen Regierung fühlt sie sich vergessen. Sie selbst hatte sich auf ein Amt im lokalen Parlament beworben, hat aber nicht ausreichend Stimmen bekommen. Sie will etwas verändern, sich für ihre Generation einsetzen. Eigentlich gebe es Töpfe speziell für die Jugend, doch das Geld würde irgendwo versickern.
"In Guatemala hat sich die Korruption zu einer Kultur entwickelt. Aber dagegen wird nichts unternommen", kritisiert sie. "Die Regierung sollte sich um die indigenen Gemeinden wie Comitancillo, die so weit von Guatemala-Stadt entfernt sind, kümmern. Auch gerade während der Pandemie. Der Impfstoff kommt hier nicht an. Der Präsident weiß überhaupt nicht, wie die Situation hier ist."

Korruption ist die Basis

Vor wenigen Wochen hatte die US-Vizepräsident Kamala Harris Guatemala besucht. "Do not come", hatte sie an die Menschen in Guatemala gerichtet gesagt. Dass dies die jungen Menschen in Comitancillo und anderswo in Guatemala nicht abschreckt, wundert den Historiker und Guatemala-Experten Harald Waxenecker nicht. Der Österreicher arbeitet seit 1996 in und über Guatemala und sagt nüchtern: "Ich würde auch gehen."
Hunderte Flüchtlinge ziehen am 25.10.2018 von Guatemala in Richtung mexikanische Grenze.
Abgekoppelt von der wirtschaftlichen Entwicklung: Hunderte Flüchtlinge ziehen in Richtung mexikanische Grenze.© imago / Agencia EFE / Estaban Biba
Ein übergroßer Teil der Bevölkerung sei von der wirtschaftlichen Entwicklung komplett abgekoppelt, so Waxenecker. Besonders die Indigenen, die rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, hätten keinerlei Chance auf Teilhabe. Sie finden nur in der Migration eine Alternative.
Die Korruption, so Waxenecker, ist der entscheidende Faktor für die soziale Ungleichheit und die festgefahrenen Machtstrukturen im Land. "Als kleiner Mann, als kleine Frau hat man keine Chance sich zu entwickeln. Korrupte Netzwerke halten sich an der Macht, gerade auch auf lokaler Ebene, und arbeiten eng zusammen mit den Drogenkartellen."

Korruptionsbekämpfer werden bekämpft

Die internationale Anti-Korruptionskommission CICIG, eingesetzt unter anderem von der UNO, hat von 2007 bis 2017 spektakuläre Erfolge in Guatemala erzielt. CICIG hat Korruptionsskandale auf höchster Ebene aufgedeckt und sogar einen ehemaligen Präsidenten Guatemalas hinter Gitter gebracht.
"Eine irrsinnig spannende Zeit," erinnert sich Harald Waxenecker, dessen Forschungsgebiet die Korruption und die Analyse von Netzwerken zur Erhaltung mafiöser Machtstrukturen ist.
Als die CICIG gegen den damals amtierenden Präsidenten Jimmy Morales ermittelte, verwies dieser die Kommission 2017 außer Landes. "Es gab zum ersten Mal einen Bruch mit der Straflosigkeit im Land," rekapituliert Waxenecker. "Das ging der Mafia zu weit."
Die Perspektive für Guatemala sieht Harald Waxenecker mit Blick auf die verfestigten Machtstrukturen kritisch und zuweilen auch pessimistisch. "Es braucht Rückhalt im eigenen Staat, es braucht internationalen Druck, aber nicht nur das", fordert er.
"Auch die Akteure, die etwas verändern wollen, müssen gezielt unterstützt werden. Dazu gehören einzelne Richter, Staatsanwälte, diverse Gruppen aus der Zivilgesellschaft und auch die Vertretung der indigenen Völker."
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