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Friedenspreis für Aleida und Jan Assmann
"Aufarbeitung ermöglicht es, eine neue Zukunft zu gewinnen"

Die mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 ausgezeichneten Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann haben viel zu den Formen kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskultur gearbeitet. "Die Idee, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, funktioniert nicht auf Dauer", sagte Aleida Assmann im Dlf.

Aleida und Jan Assmann im Gespräch mit Michael Köhler | 12.06.2018
    Die Kulturwissenschaftler Aleida Assmann und Ehemann Jan Assmann. Das Ehepaar erhält gemeinsam den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
    Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an Aleida und Jan Assmann. (dpa/Corinna Assmann)
    Michael Köhler: Vor der Sendung sprach ich mit den Preisträgern und habe zunächst Aleida Assmann gefragt. Bis lange nach dem Dreißigjährigen Krieg gehörte das Vergessen zur Friedenskultur. Mit Versailles und Nürnberg bis zu Den Haag kommt etwas Neues dazu. Die Selbstverpflichtung zur Anklage von Kriegsverbrechen nicht zu vergessen. Ich bin in den Sechzigern noch mit den Geschichtslügen groß geworden: "Es war nicht alles schlecht, einmal muss Schluss sein, und davon haben wir nichts gewusst." Eine gelungene Erinnerungskultur sieht anders aus, oder?
    Aleida Assmann: Ja, Sie haben Recht. Auch ich bin in eine Vergessenskultur hineingewachsen. Und von daher war das Erinnern eine sehr späte Einsicht für mich. Churchill hat ja noch gesagt 1946: "Wir müssen die Irrtümer und die Verbrechen der Vergangenheit vergessen. Nur dann können wir ein neues Europa bauen." Das war die Idee, man muss die Vergangenheit hinter sich lassen, um eine neue Zukunft zu gewinnen. Das hat auch funktioniert, aber es funktioniert nicht auf Dauer. Das ist der Punkt. Und es geht nicht, wenn in der Geschichte Menschheitsverbrechen begangen sind, deren Ausmaß eigentlich auch erst über die Jahrzehnte deutlich geworden ist in Form der schweren Traumatisierungen und ihrer Nachfolgen.
    Michael Köhler: "Der lange Schatten der Vergangenheit" heißt ein Buch über Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Dass Ihre Theorie des kulturellen Gedächtnisses fruchtbar ist, zeigen ja beispielsweise solche Einrichtungen wie Wahrheitskommissionen. Was ist der Kern, Aleida Assmann, einer – wenn ich es richtig verstanden habe – dialogischen Erinnerungskultur?
    Aleida Assmann: Also, genau die Wahrheitskommission ist das, was man damals nicht gemacht hat 1945. Was man aber inzwischen tut, und zwar nicht erst von Europa aus, sondern von den südamerikanischen Diktaturen aus, also in den 80er-Jahren etwa in Argentinien. Da wurde eine Wahrheitskommission eingerichtet, um die Junta, die Militärherrschaft, die Gewaltherrschaft des Verschwindenlassens von 30.000 Personen in der Bevölkerung aufzuarbeiten. Und seitdem gehen wir davon aus, dass eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit, also eine Anerkennung der Opfer und eine Nennung der Namen der Täter, es ermöglicht, eine neue Zukunft zu gewinnen.
    Mit der Vergangenheit die Zukunft öffnen
    Michael Köhler: Wir erleben gerade, dass die Staatsräson der Bundesrepublik, sich zu erinnern, angegriffen wird. Also, geschichtspolitische Revisionisten von rechts sprechen von "verengtem Blick" und vom "Denkmal der Schande". Die Erlebnisgeneration wird weniger. Also braucht es das, was Sie auch in einem Buchtitel nennen – so was wie weiträumige "Erinnerungsräume"?
    Aleida Assmann: Ja, genau, das ist die Idee. Nicht, dass wir damit an der Vergangenheit kleben und uns die Zukunft verstellen, wie man das vorher immer vermutete und wie es heute auch im Sprachgebrauch immer noch suggeriert wird. Wir stellen immer die Zukunft gegen die Vergangenheit. Das ist aber nicht der richtige Weg, denn die Zukunft öffnet sich mit der Art und Weise, wie man auf diese Vergangenheit zurückgreift, gerade auch, wie man gemeinsam auf sie zurückgreift. Also gerade in Konfliktkonstellationen, von Täter- und Opferkonstellationen ist es ganz wichtig, so etwas wie einen dialogischen Blick zu gewinnen, diese Beziehungsgeschichte gemeinsam zu erinnern, um eine neue Zukunft zu gewinnen.
    Michael Köhler: In ihrem jüngsten Buch von 2017, " Menschenrechte und Menschenpflichten", plädieren Sie für nichts Geringeres als einen neuen Gesellschaftsvertrag.
    Aleida Assmann: Genau, also grundsätzlich meine ich natürlich, dass der Staat ein Gefüge aufbauen muss, in dem Rechtsschutz gewährt wird den Bürgern gegenüber, dem Zugriff des Terrors durch den Staat, also dass eine zivilrechtliche Ordnung da sein muss, aber dass innerhalb der Gesellschaft auch noch mal was existieren muss wie grundsätzliche Umgangsformen der Nachbarschaftlichkeit. Dass man Spaltungen auch dadurch überwindet, dass man sich an uralte Regeln der Mitmenschlichkeit erinnern kann, die schon 5.000 Jahre lang praktiziert worden sind auf der Erde und über alle Religionen hinweg eigentlich die gleichen sind.
    "Religion muss ihren Absolutheitsanspruch zurücknehmen"
    Michael Köhler: Ihr Mann, der Ägyptologe Jan Assmann, hat heute Mittag sehr schön im Südwestrundfunk gesagt: "Ach, eigentlich hat meine Frau den Preis ja viel mehr verdient." Aber er hat ja nun auch wichtige Bücher gemacht über monotheistisch geprägte Gesellschaften. "Totale Religion" heißt eins. Immer dann, wenn Religionen ihren Absolutheitsanspruch nicht zurücknehmen, hauen sich die Menschen die Köpfe ein. Also, ist das Gebot der Stunde, Entpolitisierung von Religion?
    Jan Assmann: Ja. Das würde ich unbedingt unterstreichen wollen. Also, die Religion hat ihre Aufgaben. Die Politik hat ihre Aufgaben. Und die Religion sollte sich da nicht einmischen.
    Michael Köhler: Als Ägyptologe denken Sie immer in großen Zeiträumen, Professor Assmann, aber wenn Religionen ihren Absolutheitsanspruch eben nicht zurücknehmen, dann hauen sich die Menschen schnell die Köpfe ein, nicht?
    Jan Assmann: Ja, eben. Da haben Sie Recht, das ist meine Sorge. Deswegen: Die Religion muss ihren Absolutheitsanspruch zurücknehmen. Das hat sie übrigens auch weitgehend getan. Die katholische Kirche hat sich ja explizit, und das schon vor über 50 Jahren, von diesem Grundsatz "Nulla salus extra ecclesiam" verabschiedet. Das gilt nicht mehr. Und das ist ein Schritt auf dem richtigen Weg. Das heißt ja gar nicht, dass die Gläubigen aufhören sollen zu glauben. Nur diese Exklusivität und dieser emphatische Wahrheitsanspruch, der mit dem Glauben verbunden ist, den muss man zurücknehmen, wie das ja schon Lessing im 18. Jahrhundert gefordert hat.
    Das Gedächtnis als dynamisches Gefüge
    Michael Köhler: Ich durfte Sie, glaube ich, Ende der 80er, Anfang der 90er mal in Heidelberg besuchen und weiß, dass Sie fünf gemeinsame Kinder haben. Allein schon aus dem Grund, darf man nichts vergessen, sonst in der Familie alles schief. Also, Ihre Theorie der Erinnerung ist ziemlich praktisch, oder?
    Aleida Assmann: Also, auch in der Familie wird immer etliches vergessen. Da gibt es dann auch Familiengeheimnisse, und es ist nicht immer alles parat. Und manches kann man später wieder aufgreifen, was untergegangen ist. Also, das ist auch ein dynamisches Gefüge. Ein Gedächtnis ist kein Archiv. Es ist nicht immer alles immer zugänglich. Und das ist eigentlich auch das Spannende daran, dass man daran immer weiterarbeitet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.