Freitag, 19. April 2024

Archiv

Friederike Mayröcker: "Pathos und Schwalbe"
Hingebungsvolles und schonungsloses Protokoll

Elf Wochen musste die österreichische Dichterin Friederike Mayröcker im Krankenhaus verbringen. Eine Qual für sie, weil sie dort nicht schreiben konnte. Sie machte sich aber in der Zeit Notizen, die sie nach ihrer Heimkehr in dem Band "Pathos und Schwalbe" verarbeitete.

Von Cornelia Jentzsch | 13.04.2018
    Die österreichische Schriftstellerin vor einer Bücherwand Friederike Mayröcker am 9. Dezember 1999.
    Für die Schriftstellerin Friederike Mayröcker ist das tägliche Schreiben notwendig. (picture-alliance / dpa / apa Klaus Techt)
    Bereits in Mayröckers Buch "Lection" - 1994 erschienen - heißt es im Klappentext, Zitat: "Immer wieder ist die panische Angst, nicht weiterschreiben zu können... Das Glück äußert sich nicht allein in der Permanenz dieser Schreibbeschäftigung: Es besteht auch im Bewusstsein, sich des Todes zu erwehren, also ich schreibe gegen meinen Tod an'."
    Friederike Mayröckers jüngstes Buch "Pathos und Schwalbe" treibt umso mehr dieser Beweggrund an. Die inzwischen 93-jährige Dichterin verfasste ihr neues Buch unter besonderen Umständen. Elf Wochen lang musste sie ihren Lebensmittelpunkt, besser Überlebensmittelpunkt Schreibtisch gegen "Klostergarten und Krankensaal" eintauschen.
    "Mein Büschel mein Vaterland verbringe die Tage mit Lesen, Schlafen, Essen, die Ärzte hoffnungsfroh dasz ich bald entlassen werde dasz ich die Ketten sprenge (wie blutend, die Rosetten im Klostergarten, im Himmel die Hostien die Hundsveilchen die Ideale)."
    Tägliches Schreiben nahezu unmöglich
    Das für Friederike Mayröcker notwendige tägliche Schreiben war in dieser Situation nahezu unmöglich. So behalf sie sich mit kurzen Notizen, die sie bei der Rückkehr an den Schreibtisch zu "Pathos und Schwalbe" verwandelte.
    Ihr neues Buch ist "eine Erweiterung und Fortschreibung, Weiterentwicklung, aber auch Veränderung des poetischen Existenzprotokolls, dass Friederike Mayröcker in dieser speziellen Ausprägung seit etwa einem Jahrzehnt führt. Aber in erster Linie muss man von Komposition sprechen. Worum geht es? Eine gleichzeitige Präsenz einer Vielzahl von Stimmen zu erreichen", sagt Kurt Neumann, Leiter der Alten Schmiede in Wien, kürzlich bei seiner Einleitung zu einer Lesung Friederike Mayröckers aus ihrem neuen Buch.
    Die auftauchenden Stimmen kommen von außen in Form von Briefen, Telefonaten, Nachrichten oder Gesprächen, vor allem aber von innen. Ein dichtes Gewebe aus Erinnerungen, Traumsequenzen, poetologischen Überlegungen - durchdrungen oft von Wehmut und Sehnsucht, gehalten und aufgelockert von Ironie und Erstaunen. Diese Stimmen sind im neuen Buch stärker als zuvor miteinander verwoben, gehen ineinander über, tauchen aus der Erinnerung verwandelt und an anderer Stelle erneut auf. Faszinierend zu verfolgen, wie sich ein Bewusstseinsstrom sanft nach innen verlagert und die Außenwelt in ihren Zumutungen allmählich gezügelt wird. Schonungslos wie kein anderes Werk der Gegenwart spiegelt das von Friederike Mayröcker Bewusstseins- und Lebensphasen wider.
    "Ich müszte den ganzen Tag für mich haben um unbändig, ich meine schreiend, schreiben zu können ach der Palmwedel an der Eingangstür, fürstlich nämlich das Exkrement auf dem Bettuch, die Szene sehr expressiv, lese in Beethoven's Testament... dieses Sportgesindel von Fuszball, gesichtet vom obersten Spitalsfenster, in der Sportecke zierliches Fliederbusch dessen Blüten wie winzige rote Strophen = Gemälde auf Pappe von Linde Waber, entferne mich weiter von den Menschen, Jacques Derrida, Waldvögelchen ohnegleichen, damals gingen wir Hand in Hand und im Stadtpark blühte der Flieder ("le kitsch").
    Sprachliche Rationalität versus körperliche Existenz
    Das Buch "Glas" des französischen Philosophen Jacques Derrida spielt für Mayröcker eine wichtige Rolle. "Glas" heißt auf Deutsch "Totenglocke", das Werk ist Hegel und Genet gewidmet, also sprachlicher Rationalität versus körperlicher Existenz. Zwei Pole, zwischen denen auch Mayröckers dichterisches Sein changiert.
    Zudem: Derridas zweiter Vorname, in amtlichen Papieren nie erschienen, ist Elie. Alle Söhne der Familie Derrida erhielten innerfamiliär hebräische Zweitnamen. Das Kind Jacques – oder Jackie, wie sein offizieller Name lautete - wurde im Alter von acht Tagen beschnitten, diese damals nicht bewusst erlebte körperliche Gravur blieb für den Philosophen zeitlebens präsent. Den Namen Elie - Elias, in der Bedeutung von "Mein Gott ist Jahwe" - entlehnt Friederike Mayröcker in ihren Büchern immer wieder als Anrufung und Beschwörung für ihren verstorbenen Lebensgefährten Ernst Jandl.
    "‚Bist ein wenig schrullig heute', so Elie, mein unaufhörlicher Impetus ist die Überstürzung, der die Scham (auf den Fersen) folgt, sich entäußert zu haben sich NACKEND zu zeigen sich entblöszt zu zeigen, siehe auch Jacques Derridas Anmerkung über die Scham wegen des Nacktseins in Anwesenheit seines Hundes."
    Rhythmische Wiederholungen, Wiederaufnahmen ziehen sich wie gewohnt auch durch Mayröckers neues Buch. Diese Erinnerungsfäden mutieren zunehmend zu roten Fäden durch das immer eigenmächtiger werdende Gedächtnis.
    "Ach lückenhaftes casting Erinnerung! Gedächtnis haltlos, im Grünen. Erschöpft, blütenreiches Milieu, schlieszlich einander fragend ,haben wir alles ausgelotet (im Grünen) erschöpfend bedacht? ist das Schreiben etwa wie das Ansetzen von Dominosteinen?'"
    Tränen als empathische Signale
    Das Wort Pathos ist entlehnt vom griechischen "Leidenschaft" mit Bezug zum Verb "erdulden" resp. "erleiden". Mayröckers Schreibzustand ist stets ein überglücklicher, pathetischer Rauschzustand, aber sie spricht auch vom "Wundmal Poesie" und von "Sprachfolterung". Die immer wieder eingestreuten Tränen im Buch sind nicht nur Symbol der Trauer, sondern auch empathische Signale. Sie sagt, oft heule sie beim Schreiben, weil sie sich so gut in alles hineinversetzen könne, alles spräche zu ihr.
    Die Schwalben wiederum haben ihren Ursprung in der reichen Fauna und Flora, dem unvergänglichen Aroma von Glück und Freiheit inmitten jenes 200 Seelen großen Dorfes ihrer Kindheit. Nunmehr erinnerte Vogelflüge und wegen fehlenden Wassers in Vasen jetzt welkende Flora, sie werden wie die zunehmend wehmütigen Tränen zu Insignien des Alters.
    "Heulend im Birkenwald Döschen Heidelbeeren mit in den offenen Rachen (geschüttet), ich meine in unvordenklichen Waldtagen, auch selber GEBROCKT, erinnerst du dich, damals in Rohrmoos, hingegossen mein Fell und mein Fusz ins Wespen-Laub während Waldvögelchen ihre … (Liebeslieder) aus zarter Kehle."
    Friederike Mayröckers Buch "Pathos und Schwalbe" ist ein hingebungsvolles, schonungsloses Protokoll. Schonungslos in der Sprache wie gleichermaßen in Mayröckers an die Sprache gebundenen Existenz. Beides schon immer, mit den Jahren aber erschütternd deutlicher werdend.
    Friederike Mayröcker: "Pathos und Schwalbe"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 265 Seiten, 24,00 Euro.