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Friedhöfe in Afghanstan
Entspannend und beklemmend zugleich

Flanierende Pärchen, spielende Kinder, plaudernde Gruppen: Am Wochenende sind die Friedhöfe in Afghanistan voller Menschen. Für sie sind die Grabstätten Orte der Ruhe und der Entspannung. Mit einer Ausnahme: Der Friedhof der Selbstmörder am Rande Kabuls.

Von Sandra Petersmann | 30.07.2016
    Auf diesen kahlen Berghängen am äußerten, südöstlichen Stadtrand von Kabul begräbt die afghanische Hauptstadt ihre Selbstmordattentäter.
    Auf diesen kahlen Berghängen am äußerten, südöstlichen Stadtrand von Kabul begräbt die afghanische Hauptstadt ihre Selbstmordattentäter. (Deutschlandradio - Sandra Petersmann)
    Der Wind bläst kräftig und wirbelt eine Staubwolke nach der anderen auf. Sieht so etwa das Paradies aus? Hier, auf den kahlen Berghängen am äußerten, südöstlichen Stadtrand von Kabul, begräbt die afghanische Hauptstadt ihre Selbstmordattentäter – oder das, was von ihnen übrig bleibt.
    "Die Mitarbeiter der Stadt sind gute Leute, die kommen oft her, um Leichen zu begraben", erzählt der zwölfjährige Kamal, der in einer Siedlung in der Nachbarschaft lebt. Der erste Selbstmordanschlag in Afghanistan geschah am 9. September 2001 – genau zwei Tage vor den Terrorangriffen auf New York und Washington. Die Attentäter töteten Ahmad Shah Massoud, der damals den Kampf gegen die Taliban anführte.
    Keine Woche ohne Anschläge
    Heute vergeht in Afghanistan kaum eine Woche ohne neue Selbstmordanschläge. Dutzende schmucklose Steine im Geröll markieren anonyme Gräber. In den namenlosen Gräbern ruhen Obdachlose, Flüchtlinge oder Verstoßene, die unbekannt verstorben sind. Und hier ruhen die, die sich in menschliche Bomben verwandelt haben.
    "Die sind böse. Die töten, weil sie ganz Afghanistan erobern wollen", glaubt Kamal. Der schmächtige Junge mit den kurz geschorenen Haaren steht vor einem kargen, frischen Grab, auf dem eine einfache Bahre liegt. Einer der städtischen Mitarbeiter scheint sie vergessen zu haben.
    Einen halben Kilometer bergab beginnt ein Familienfriedhof. Hier arbeitet Hidayatullah mit anderen Männern aus seiner Familie an einer prächtigen Grabstätte.
    "Das hier ist das Grab meines Vaters, das ist meine Verantwortung. Die anderen Gräber da hinten, für die ist die Regierung verantwortlich. Wenn ich mich um sie kümmern würde, würde ich mich sofort verdächtig machen", sagt er etwas unwirsch. Der große bärtige Mann ist kein Freund der afghanischen Regierung, das wird sehr schnell klar.
    "Das menschliche Leben hat keinen Wert in Afghanistan. Ein Auto hat hier einen Wert. Ein Handy hat auch einen Wert. Aber nicht der Mensch, weil hier niemand in den Wert des Menschen investiert", sagt Hidayatullah gestikulierend und ergänzt:
    "Die Afghanen sind mit zwei Drogen zugedröhnt: mit fehlender Bildung und mit politischer Gier."
    Die meisten afghanischen Attentäter sind junge Männer. Sie glauben, einen heldenhaften Märtyrertod im sogenannten Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen und Besatzer zu sterben, um ins Paradies zu kommen. Viele sind in den großen afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan aufgewachsen und haben dort Koranschulen besucht.
    "Wer den wahren Wert seines Lebens kennt, sprengt sich nicht in die Luft", glaubt Hibayatullah und fragt: "Oder würdest du mir deine Augen verkaufen, wenn ich dir viel Geld anbiete?" Dann dreht er sich um, um weiter an der Grabstätte seines Vaters zu arbeiten. Das Gespräch ist beendet.
    "Wir sind keine Terroristen"
    "Komm, mach ein Foto mit uns. Wir wollen ein Foto mit dir. Wir wollen dir zeigen, dass nicht alle Afghanen Terroristen sind", bittet Nargis lachend auf einem Friedhof am anderen Ende der Stadt. Die resolute Lehrerin sitzt mit ihrer Familie beim Picknick zusammen.
    "Ausländer denken schlecht über Afghanen, wegen der vielen Terroranschläge. Aber wir sind keine Terroristen", sagt Nargis energisch. An den Wochenenden besucht sie mit ihrer Familie regelmäßig den Kart-e-Sakhi Friedhof, zu dem auch ein prächtiger Schrein gehört. Der Friedhof liegt im Westen Kabuls und gehört zu den größten der Stadt. Für Nargis ist er eine Oase des Friedens und der Ruhe. Ein Ort, an dem sie als Frau draußen an der frischen Luft sein kann, ohne Angst vor Anfeindungen haben zu müssen, wie sie sagt.
    "Die Attentäter wollen Angst und Schrecken verbreiten und unser Leben zerstören. Sie sind die Werkzeuge anderer. Das sind ungebildete Menschen. Die empfinden keine Schuld", sagt Nargis verächtlich.
    Spielplatz und Arbeitsplatz zugleich
    Für die fünf lachenden Wasserkinder ist das alles weit weg. Für sie ist der riesige Friedhof Spielplatz und Arbeitsplatz zugleich.
    Die Kinder holen Wasser aus dem Schrein, füllen es in kleine Gefäße ab und verkaufen es auf dem Friedhof, damit die Angehörigen die Grabsteine waschen können. An guten Tagen verdienen sie bis zu fünf Euro.
    Und wenn die Wasserkinder nichts verdienen, bleiben der Spaß und die Freiheit, zwischen den Toten auf dem Friedhof zu spielen – in einer Stadt, die kaum Grünflächen zu bieten hat und in der Beerdigungen nach fast 40 Jahren Krieg zum Alltag gehören. Hier, in Kart-e-Sakhi, liegen viele Opfer, die bei den Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt ihr Leben verloren haben. Soldaten, Polizisten, aber vor allem Zivilisten. Auf ihren Grabsteinen steht, dass sie Märtyrer sind.
    Ein Ort des Austausches und der Ruhe
    Zwischen den Gräbern flanieren auffällig viele junge Menschen. Der Friedhof ist auch ein Ort, an dem sich heimlich Verliebte im Schutz der Toten sehen und austauschen können.
    "Wenn man hierherkommt, hat man seine Ruhe. Hier kann man atmen. Wer beten will betet, aber Touristen sind auch hier. Der Blick ist so toll. Das ist ein offener, freier Ort", sagt ein junger Mann mit Smartphone, der mit ein paar Freunden auf dem Friedhof unterwegs ist, als sei es der selbstverständlichste Treffpunkt von Kabul.