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Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe

Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!

Ludger Lütkehaus | 22.07.2002
    Ich verstehe unter 'Moral' ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.

    "Indem ich dich vernichte, Hohenzollern, vernichte ich die Lüge.

    Drei Sätze desselben Autors, angeblich sogar die Schlußätze desselben Werkes. Der erste entstammt der postumen Ausgabe von Friedrich Nietzsches so genanntem "Hauptwerk", dem "Willen zur Macht", die das Weimarer Nietzsche-Archiv unter der Ägide von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche erstmals 1901, dann in zahlreichen weiteren Ausgaben umfassend besorgt hat.

    Der zweite "Schlußsatz" ist in Karl Schlechtas Ausgabe von 1956 enthalten, die nur noch chronologisch geordnete Manuskripte unter dem so nüchternen wie vorsichtigen Titel "Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre" bot. Der dritte "Schlusssatz" steht in der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari seit 1967 herausgegebenen "Kritischen Gesamtausgabe".

    Die Unterschiede sind schwerwiegend. Und Leser, die mit den Tücken der Philologie nicht vertraut sind, könnten spätestens hier den Glauben verlieren und desillusioniert feststellen, dass Editionen immer schon Interpretationen und manchmal auch Manipulationen sind.

    Einen Philosophen eben des "Willens zur Macht" allerdings müsste das nicht weiter irritieren. Eigentlich brauchte er nur Nietzsche selber beim Wort zu nehmen. Denn wenn es nach seiner Philosophie keine "Tatsachen" gibt, "nur Interpretationen", und "das Interpretieren selbst (...) eine Form des Willens zur Macht" ist, "ein Mittel (...), um Herr über etwas zu werden", warum sollte man dann nicht auch der "Tatsachen" der Texte Herr werden wollen?

    Elisabeth Förster-Nietzsche jedenfalls war das Gegenteil von dem, was man sich unter einem seriösen Herausgeber vorstellt: zupackend, willensstark, ohne Skrupel und ohne jeden Respekt vor dem überlieferten Text, dafür begabt mit eindrucksvollen kriminellen Energien. Sie hat aus den verschiedenen konkurrierenden Entwürfen, die sich bei Nietzsche mit dem Konzept des "Willens zur Macht" verbanden und Ende August 1888 als eigenständiger Buchplan von ihm aufgegeben wurden, willkürlich einen als titelgebenden Plan ausgewählt und die nachgelassenen Fragmente "bearbeitet", das heißt: sie hat ausgewählt, umgestellt, auseinandergerissen, weggelassen, hinzugefügt, systematisiert, Nietzsches umfängliche Zitate fremder Autoren irreführend ihm zugeschrieben und auch schlicht und einfach Texte gefälscht, wie sie es womöglich noch eindrucksvoller in ihren rasierten, radierten und retuschierten Briefeditionen getan hat: Das Weimarer Nietzsche-Archiv - eine Fälscherwerkstatt.

    In den eingeweihteren Kreisen blieb es denn auch nicht ganz unbekannt, womit die mit einem Ehrendoktorat der Universität Jena ausgezeichnete und mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagene Frau Dr. Förster-Nietzsche die nächtlichen Stunden verbrachte, in denen sie keinesfalls gestört werden wollte. Ein ziemlich hintersinniges Gerichtsurteil attestierte ihr 1931 sogar die Tantiemenberechtigung für ihre Ausgabe des "Willens zur Macht" dank unbestreitbarer Co-Autorinnenschaft. Doch erst die Ausgabe des ehemaligen Archivmitarbeiters Karl Schlechta, der indes noch nicht den handschriftlichen Nachlass in Weimar einsehen konnte, dann die "Kritische Gesamtausgabe" von Colli und Montinari enttarnten die Fälschung und entmythologisierten den "Willen zur Macht".

    Die "kritische Gesamtausgabe" gilt mit Recht als epochemachende Leistung. Sie hat statt des "Willens zur Macht" nur noch "Nachgelassene Fragmente" übriggelassen, Nietzsche im Ganzen von der Verfälschung zu einem rassistischen, antisemitischen Propheten des Nationalsozialismus befreit und die Textgrundlage für die weltweite Nietzsche-Renaissance der letzten Jahrzehnte geschaffen. Dem akkuraten Philologen, der Nietzsche bei allem Hohn auf seine Zunft blieb, war denn doch keine Handlungsanweisung für eine Fälscherwerkstatt zu entnehmen. Selbst im angeblichen "Willen zur Macht" wird die Grenze zwischen "Interpretation" und den "Tatsachen" des Textes mit Schärfe gezogen:

    Das nenne ich den Mangel an Philologie; einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen...

    Doch auch Colli und Montinari haben die nachgelassenen Fragmente - Notizbücher, Hefte, Lose-Blatt-Sammlungen - entgegen ihrer Ankündigung - nicht ganz so dokumentiert, wie sie "in den Handschriften vorliegen". Sie haben zwar keine systematische, aber eine von ihnen vermutete chronologische Ordnung hineingebracht. Und ausgeschlossen wurden nach den Worten Montinaris unter anderem "Notizen und Bemerkungen von äußerlichem und zufälligem Inhalt..."

    Nietzsche wurde dadurch selbst in dieser maßgeblichen Ausgabe noch rationaler, linearer, ordentlicher, als er in Wahrheit war. Ist aber ohne weiteres klar, was "äußerlicher und zufälliger Inhalt" ist - und das bei einem Philosophen, der mit seinem notorischen "Jenseits von..." alle schlichten Gegensätze verabschiedet hat und kein "äußerlich" und kein "innerlich", kein "zufällig" und kein "notwendig" mehr kennt? Und darf ein Herausgeber darüber vorentscheiden? Kurzum: Das Prädikat einer integralen, diplomatisch treuen, also Wort für Wort und Zeichen für Zeichen den Handschriften folgenden Edition verdient auch diese heute nahezu sakrosankte Edition nicht.

    Das nun zu erfahren, ist für die breitere Nietzsche-Leserschaft, die mit der komplexen Quellenlage nicht vertraut sein kann, vermutlich eine gewisse Sensation, auch Provokation "Wahrheiten sind Illusionen", von denen man vergessen hat, dass sie welche sind."

    Ausgerechnet auf Grund einer neuen Nietzsche-Edition desselben Verlages, besorgt von einem Teil der Herausgeber, die schon an der alten Ausgabe mitgearbeitet hatten, müssen die Leser jetzt umlernen. Die durch den Tod Montinaris 1986 gewiss erleichterte Einsicht in die Mängel der Ausgabe, die bei der Abfassung der ursprünglich geplanten Nachberichte so offensichtlich wurden, dass nun guten Gewissens der postume Vatermord begangen werden darf, im weiteren auch jene editorische Revolution, die von der großen Frankfurter Hölderlin-Ausgabe und den nachfolgenden Kafka-, Keller-, Kleist-Ausgaben des Stroemfeld-Verlages ausgelöst worden ist, haben den Sinneswandel bewirkt. Mitten im Strom hat man zwar nicht die Pferde, aber das Gefährt gewechselt. Das beweist vorab^Mut; Risikobereitschaft und Lernfähigkeit.

    Der gesamte Nachlass von 1885 an, aus der Zeit nach dem "Zarathustra", also genau das Material, aus dem der "Wille zur Macht" zurechtgefälscht wurde, soll nun in einer bisher nicht geplanten Abteilung herausgebracht werden, de facto unter dem Dach der alten Ausgabe und der alten Namen eine ganz neue Edition. Auf nicht weniger als 13 Bände ist diese Abteilung geplant. Die jetzt vorliegenden ersten drei Bände geben Einblick, was vom "Willen zur Macht" in den nachgelassenen Fragmenten übrigbleibt.

    "Notizhefte N VII, l bis 4" verheißen in konzessionsloser Nüchternheit die Titel der Bände. Sie bieten nun tatsächlich eine diplomatisch treue Transkription der Manuskripte, so wie sie erhalten sind und in Weimar verwahrt werden, ohne jeden Eingriff, nur mit den Korrekturen, Streichungen, Verbesserungen und Verschlimmbesserungen, die Nietzsche selber vorgenommen hat, und akkurat in der Folge, die die Notizhefte vorgeben, zur Not auch von hinten nach vorne, von rechts nach links fortlaufend wie bei einer Koran-Lektüre, mit Schrägzeilen und Wellenlinien in genauer räumlicher, "topographischer", nicht chronologischer Wiedergabe - und mehr als einmal steht die Texte sogar auf dem Kopf.

    Ein einziges Chaos ein unablässig durchkreuzter Schreibstrom, ein konvulsivisches Zucken, ein Exzess an Ruhelosigkeit. Nietzsches bängliche Frage in einem Brief an den Freund Franz Overbeck und die drastische Beschreibung, die er von sich selber liefert, sind nur allzu berechtigt:

    Ist es jetzt deutlich zu lesen? Ich schreibe wie ein Schwein.

    Und nicht nur wie ein Schwein. Der Schreiber scheint schon vor seinem Zusammenbruch in Turin verrückt zu sein. Um Deutlichkeit in das Gewirr zu bringen, werden nicht weniger als fünf Schrifttypen und insgesamt sieben Farben zur Wiedergabe der diversen Tinten und Schreibstifte aufgeboten, bin hin zu einem Grün, das die Herausgeber mit dem gut entwickelten Sinn für die Eschatologie der letzten philologischen Dinge die "Tinte der letzten Korrektur" nennen. Hier mit ihnen von einer "differenzierten Transkription" zu sprechen, stellt wahrhaftig ein geglücktes Understatement dar. Doch bei aller Ironie, die das - auch - provozieren wird: Vorgelegt wird das singuläre Dokument einer ins Extrem getriebenen editorischen Treue.

    Nur die Faksimiles wird man im Druck vermissen. Sie sind auf eine beigerügte CD-ROM verbannt. Hier wäre man besser dem maßstabsetzenden Verfahren des Stroemfeld-Verlages gefolgt, das die Faksimiles voranstellt, weil nur so unmittelbar die Transkription überprüft werden kann. Denn sie bleibt, wie die Herausgeber wohl wissen, noch bei der penibelsten Edition Interpretation.

    Aber lohnt denn der ganze riesige Aufwand? Macht die Philologie, die den Lesern suggeriert, sie könnten gewissermaßen "unmittelbar zu Gott", zu den Manuskripten sein, Nietzsche nicht in Wahrheit zur elitären Sache der Spezialisten? Schlägt der demonstrativ betriebene Kult des Authentischen nicht in Unzugänglichkeit um?

    Fataler: Wird hier nicht ein Werk und mit ihm die Kontur eines Autors bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst durch eine Edition, die die Klage aus Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief als Handlungsanweisung für Herausgeber mißverstanden zu haben scheint:

    Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. (...) die (...) Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. (...) Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.

    Die der Ausgabe zugrunde liegende Editionsphilosophie scheint sich überdies ein wenig spät an jene Postmoderne anzuhängen, die die Auflösung des "Werkes" in den "Schreibprozess" mit dem modischen dekonstruktivistischen Abgesang auf den "Autor", überhaupt das schreibende "Subjekt" verband. Die postmoderne "Pluralisierung" der Diskurse - wird sie hier nicht bis zur Atomisierung getrieben? Statt eines vormals großen Stilisten, der an seinen Sätzen meißelte, nur noch der "Kritzler" Nietzsche? Derjenige, der "mit dem Hammer" philosophieren wollte, seinerseits in tausend Scherben zerhämmert? Die unfreiwillig ironische Pointe könnte dann die sein, dass man sich unverhofft wieder nach dem ganzheitlich-monumentalen Machwerk der Schwester zu sehnen begänne. Nun gibt es auch jetzt noch genügend Intaktes. Das berühmte Lenzerheider Fragment "Der europäische Nihilismus" etwa bleibt weitgehend von der editorischen Destruktion unberührt. Was die Ausgabe aber in der Tat bewirkt, ist die vollendete Entmythologisierung des "Willens zur Macht". Sie ist - und das darf man hier als höchstes Lob verstehen - buchstäblich zersetzend.

    Die heiligen Bücher gerieten endlich in die Hände der Philologen, das heißt der Vemichter jeden Glaubens, der auf Büchern beruht.

    Insofern ist die Ausgabe aber auch nur die konsequenteste Schlussfolgerung, zugleich der Gipfel einer Editionsgeschichte, die mit einer Fälschung begann und mit einer Richtigstellung endet, der Wiederherstellung gleichsam eines chaotischschöpferischen Urzustandes, bevor der "Geist", der über dem Tohuwabohu schwebte, autokratisch Ordnung darin zu schaffen versuchte. Triumph der Philologie als uneingeschränkter Wille zum Text über den Willen zur Macht.

    Die paradoxe Logik dieser Geschichte ist schwerlich zu überbieten: Ein Autor, der selber ein exzellenter Philologe war; der die Philologie schmähte und feierte; der zum Tummelplatz krassester Anti-Philologie wurde, erlebt einen triumphalen Exzess an Philologie.

    Man glaubt, es sei zu Ende mit der Philologie - und ich glaube, sie hat noch nicht angefangen.

    Freilich fordert der uneingeschränkte Wille zum Text auch den Lesern ihren Tribut an Genauigkeit, Zeit, Lesebereitschaft, ein förmliches Exerzitium ab. Doch die nun von der Lektüre mehr denn je geforderte Langsamkeit ist exakt das, was der Philologe Nietzsche als "Lehrer des langsamen Lesens" wollte:

    Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die 'Eile hat', zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche (...) vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden -(...) mitten in einem Zeitalter der 'Arbeit', will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich 'fertig werden' will (...).

    Der philosophische und psychologische Ertrag lohnt um so mehr. Jetzt sieht man deutlicher den je, dass Nietzsche alles andere als ein Theoretiker und schon gar kein Systematiker ist; dass ihn der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch überhaupt nicht interessiert; dass viele Willen - zur Macht, zum Werk, zum Ruhm, zur Wahrheit, zur Gesundheit, zur Lust, zum Schmerz - ihn philosophisch und als Mensch bestimmen. Das "pluralisiert", gar "atomisiert" ihn nicht bis zur Beliebigkeit; es treibt vielmehr die Polyphonie, die Widersprüche heraus, aus denen er seine Funkten schlägt. Und die Misere seines Lebens, das Leiden, das er mit einer Anstrengung ohnegleichen bis hin zu einem ewigen Dacapo zu bejahen versucht, artikuliert sich ungeschönt und mit allen seinen Verschreibungen. Die Reinschrift des Lebens muss man in anderen Sphären suchen.

    Zu guter Letzt bleibt den Lesern auch der Humor der Sache nicht vorenthalten. Nun stehen am Schluss dieser drei Bände nach einer rigorosen Abrechnung Nietzsches mit den Antisemiten und ihrem "Ressentiment ihrer "ohnmächtigen Wuth", diverse Ermahnungen an sich selbst.

    Wasser trinken./ Nie Spirituosa. (...) keine Briefe schreiben Abends warme Kleider!

    Und nach der Einsicht, dass sich bedeutendere geschichtliche Ereignisse gleich zweimal zu ereignen pflegen, erst tragisch, dann farcenhaft komisch, liefert Nietzsche in den Notizheften zum "Willen zur Macht" gleich dessen Parodie mit. Sie steht im zweiten Band der neuen Ausgabe auf Seite 194, in Tintenblau und Bleistiftschwarz. Bei Colli/Montinari konnte man hier als substantiellen philosophischen Text ohne Hinzufügung von "äußerlichem und zufälligem Inhalt" einen der später von Nietzsche verworfenen Titelentwürfe lesen:

    Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. Von Friedrich Nietzsche

    Im Notizheft VII 2 hingegen steht zwischen dem blauen "Willen zur Macht" eine schwarz geschriebene "Zahnbürste" nebst einer Adresse wohl für den Erwerb derselben, gefolgt von weiteren Namen und Adressen, abgeschlossen mit einer ebenfalls schwärzlichen "Rolle" und "Kleiderbürste". Der "Wille zur Macht" zwischen Zahn- und Kleiderbürste: das kann man wohl eine geglückte Selbstparodie auf das Pathos eben dieses Willens nennen. Der von der Weimarer Fälscherwerkstatt inthronisierten und in Gestalt eines braunen "Führers" willkommen geheißenen "blonden Bestie" hätte es beizeiten gut getan.