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Fritz B. Simon: "Formen"
Übergroße Reichweite

Der Systemiker Fritz B. Simon legt mit "Formen" ein Buch zum Thema der "Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen" vor. Der Philosoph Thomas Arnold prüft, ob Simon seinem eigenen Anspruch des "strikten Denkens" dabei überhaupt gerecht wird.

Von Thomas Arnold | 14.06.2018
    Buchcover "Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen" von Fritz B. Simon
    "Formen" von Fritz B. Simon (Buchcover: Carl-Auer Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa /Marcus Brandt)
    Systemtheoretische Ansätze beschreiben ihre primären Gegenstände als Systeme, also als strukturierte Einheiten, die sich von ihrer Umwelt unterscheiden. Welche weiteren Eigenschaften Systeme haben und wie sie sich erforschen lassen, hängt dann wesentlich vom konkreten Forschungsgebiet ab. Die Systemtheorie ist daher eher eine Sprache als eine einheitliche Wissenschaft. Sie speist sich aus verschiedenen Quellen und kommt wiederum in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zum Austrag.
    Darunter finden sich Biologie, Kybernetik, Soziologie und Psychologie. Aber auch in der Psychotherapie und der Beratung haben sich systemische Ansätze etabliert. Hier geht es vor allem darum, Situationen systemtheoretisch so zu beschreiben, dass Probleme sich auflösen oder zumindest besser verständlich werden. Beschreiben wir etwa Beziehungen primär als Interaktionssysteme, fällt es leichter, Spannungen als Fehlfunktionen des ganzen Systems zu betrachten, anstatt als schuldhafte Verfehlungen der einzelnen beteiligten Egos.
    Fritz Simon bietet nun mit seinem neuen Buch Formen eine systemtheoretische Beschreibung verschiedener Wirklichkeitsbereiche und ihrer Beziehungen an. Er erhebt dabei den Anspruch eines strengen Denkens, das "durch konsistentes Argumentieren und Schließen bestimmt" sei. Diesem Anspruch mögen auch die sehr formale, sperrige Sprache und der Aufbau des Buches geschuldet sein, das, ähnlich wie Wittgensteins Tractatus oder mathematische Abhandlungen, aus nummerierten Sätzen oder Paragraphen besteht.
    Definition der Definition
    Leider wird das Buch dem eigenen Anspruch kaum gerecht. Vor allem kommt dem Werk seine thematische Reichweite in die Quere. Da sehr viele Themen abgehandelt werden, bleibt kaum Platz für begriffliche Differenzierung, Problematisierung oder Begründung. Dies führt dazu, dass sich bei fast allen von ihm behandelten Themenbereichen die Frage stellt, warum wir die unbegründeten systemtheoretischen Thesen akzeptieren sollten, wenn die Debatten in den Fachwissenschaften entweder noch laufen oder viel differenziertere Beschreibungen hergeben. Sowohl der Wahrheits- als auch der Mehrwert der systemischen Beschreibungen bleibt also fraglich. Dieses sehr harte Urteil sei an einigen Beispielen plausibilisiert.
    Das Bewusstsein, das ja eines der drei Hauptthemen des Buches darstellt, führt Simon folgendermaßen ein:
    "Definition: Wenn ein menschlicher Organismus in Interaktion mit anderen Menschen tritt - also Teilnehmer eines Kommunikationssystems wird - und eine gemeinsame Interaktionsgeschichte mit ihnen durchläuft, so entwickelt sich emergent ein neuer Phänomenbereich: ein individuelles Bewusstsein - ein psychisches System -, zusammengesetzt aus Ereignissen, Prozessen: Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Entscheiden..."
    Dabei fällt zunächst auf, dass es sich bei der vermeintlichen Definition gar nicht um eine Definition handelt, denn die Bedeutung des Ausdrucks "Bewusstsein" wird nicht geklärt oder festgelegt. Vielmehr behauptet Simon hier eine substantielle These zur Entstehung von Bewusstsein. Diese These wird weder problematisiert noch begründet.
    "Emergenz" wird nicht erläutert
    Leider wird auch nicht klar, was genau die These eigentlich besagt, da Simon den Modeausdruck "Emergenz" nicht erläutert, obwohl er mehrfach im Buch auftaucht. Dabei ist Emergenz als Erklärungskonzept umstritten und eventuell sogar nutzlos. Zumindest bei Simon zeigt er nur die Stelle an, an der etwas zu erklären wäre.
    Simons These über die Entstehung von Bewusstsein ist jedoch nicht nur unklar, unbegründet und problematisch, sondern gerät auch in einen Widerspruch mit dem Rest seiner Theorie, wenn er später behauptet
    "Kommunikation im sozialen System ist immer daran gebunden, dass psychische Systeme als Medien, die Organismus und soziales System koppeln, fungieren."
    Gemäß der ersten Definition soll Bewusstsein durch die Teilnahme an Kommunikationssystemen entstehen; andererseits soll nun die Teilnahme an Kommunikationssystemen wiederum Bewusstsein voraussetzen. Das ist ein handfester Widerspruch.
    Dazu kommt eine Überdetermination, wenn Simon später behauptet, Bewusstsein entwickle sich
    "nach Maßgabe der Nichtanpassung des Organismus an den nachgeburtlichen physischen und sozialen - dem interaktionellen, kommunikativen - Kontext, also aufgrund der mangelhaften Befriedigung seines Sauerstoff-, Flüssigkeits- und Nährstoffbedarfs bzw. des Verlustes der physiologischen Homöostase."
    Paradoxie und Tautologie
    Hier wird die organische Nicht-Befriedigung direkt für die Entwicklung des Bewusstseins verantwortlich gemacht, nicht mehr die soziale Interaktionsgeschichte, wie früher behauptet. Bewusstsein wirke außerdem angeblich auf den Körper und ist an ihn gekoppelt, denn jede Operation des Bewusstseins habe ein "körperliches Korrelat", das aber eventuell auch mit dem Bewusstsein identisch sein könnte, also doch kein Korrelat - wie genau diese Verhältnisse überhaupt präzise zu denken, geschweige denn zu erklären sind, darüber schweigt sich Simon aus. Was angesichts der aktuellen Debattenlage in Philosophie und Kognitionswissenschaften nicht verwundert.
    Problematisch sind auch Simons Ausflüge in die Logik und die formale Semantik; etwa, wenn er das für ihn wichtige Konzept der Paradoxie einführt:
    "Paradoxie: In der Aussagenlogik wird als paradox eine Form der Selbstbezüglichkeit bezeichnet, bei der jeder von zwei Sätzen - p, q -, deren Wahrheit sich im Sinne der zweiwertigen Logik gegenseitig ausschließt - entweder p ist wahr oder q ist wahr -, gerade dann wahr ist, wenn er falsch ist und gerade dann falsch ist, wenn er wahr ist."
    Gegenstück zur Paradoxie ist die Tautologie: eine Form der Selbstbezüglichkeit zweier oder mehrerer Sätze - p, q, … - , deren Aussagen sich im Sinne der zweiwertigen Logik gegenseitig in ihrer Wahrheit bestätigen."
    Beide Definitionen sind falsch. Es gibt aussagenlogisch formulierbare Paradoxien, die nicht selbstbezüglich sind oder keine Negationen enthalten - zum Beispiel die Paradoxien von Fitch, Curry sowie einige der Paradoxien des materialen Konditionals, sofern man diese als Paradoxien akzeptiert. Tautologien sind Formeln, die in jeder Interpretation wahr sind, müssen aber keineswegs selbstbezüglich sein.
    Was Simon dann in seiner Diskussion der Psychose als schizophrenen, "protologischen Syllogismus" bezeichnet, ist einfach eine Hälfte von Leibniz' Gesetz, nämlich der Satz von der Identität ununterscheidbarer Dinge - im Unterschied zur Ununterscheidbarkeit identischer Dinge; nach dem letzten Stand der Debatte scheint dieses Prinzip für die meisten Gegenstandsbereiche mindestens kontingent wahr zu sein, wobei es Argumente dafür gibt, dass es in der Quantenmechanik nicht gilt. Nichts davon wird von Simon diskutiert und nichts davon berechtigt, das Prinzip als schizophrenes, also krankes Denken zu bezeichnen.
    Der Mangel an Problematisierung und Begründung zieht sich durch das ganze Buch. Die Folge davon ist, dass sich regelmäßig die Frage stellt, wieso wir Simons Thesen akzeptieren sollten oder welchen Gewinn eigentlich eine Neubeschreibung bringt, die viel weniger differenziert ist als konkurrierende Theorieangebote.
    Ohne System an der Systemtheorie vorbei
    So definiert Simon zum Beispiel Macht rein subjektivistisch:
    "Ob eine Machtbeziehung […] besteht, entscheiden die Beteiligten aufgrund der Bewertung ihrer gegenseitigen Funktionen"
    Dass Macht auf gegenseitiger Bewertung beruht, dürfte den meisten Soziologen und Politologen neu sein - und auch den meisten Unterdrückten. Mit dieser Definition sind jedenfalls strukturelle und überhaupt alle unbewussten Machtbeziehungen unbeschreibbar, obwohl die Systemtheorie durchaus über Ressourcen verfügt, auch solche Zusammenhänge zu beschreiben. Dass der Bezug zur klassischen Systemtheorie eher schwach ist, wird auch an Simons Bestimmung der Kultur als Menge von Spielregeln deutlich, wobei er deren Realisierungen, zum Beispiel in Institutionen und Dokumenten, ignoriert. Der große Systemtheoretiker Niklas Luhmann dagegen hielt den Begriff der Kultur für größtenteils theoretisch unbrauchbar; wo er ihn doch verwendet, bestimmt er Kultur als "Börse, an der die Optionen für Paradoxieentfaltung gehandelt werden", also nicht einfach als Menge von Spielregeln, sondern als pluralistisches Medium.
    "Gefährlich unter-komplex oder gar propagandistisch"
    Das Bild vom Markt als selbstorganisierte Lösung des Problems der bedarfsgerechten Allokation, das Simon zeichnet, ist dagegen nachgerade gefährlich unter-komplex oder gar propagandistisch.
    Die Bestimmung von Religion als illusionäre Lösung eines Passungsproblems zwischen Wille und Wirklichkeit sowie als Erklärungsersatz ist religionswissenschaftlich naiv. Ebenso naiv ist die Vorstellung, dass die Aufklärung in der Folge des Buchdrucks dafür gesorgt habe, dass "zweiwertig logisch konsistentes Argumentieren und Überzeugen" "Verkündigung und Glauben" ersetzen. Als gäbe es keine antike, scholastische oder islamische Philosophie und Mathematik - und keinen Glauben nach der Aufklärung.
    Die Biologen wiederum wird es erstaunen zu hören, dass biologische Erklärungen von abweichendem menschlichem Verhalten sich "weder verifizieren noch falsifizieren" lassen. Dass überhaupt jede Abweichung von den "als normal definierten Merkmalen" als Krankheit bestimmt wird, ist politisch wie therapeutisch höchst problematisch und entspricht auch keineswegs dem medizinischen oder dem alltäglichen Sprachgebrauch.
    Andererseits behauptet Simon auch, es gebe eine kontextfreie Verwendung von Sprache, wenn er ausführt:
    "In westlichen Kulturen verwendet das Individuum die Bezeichnung "ich" kontextfrei für sich als abgetrennte, aus dem sozialen Kontext gelöste, abstrakte Einheit".
    Wie ein deiktischer bzw. indexikalischer Ausdruck wie "ich" ohne Kontext funktionieren kann, obwohl er den jeweiligen Sprecher bezeichnet, bleibt ein Rätsel.
    Es sei damit nicht unbedingt gesagt, dass Simon in allem falsch liegt, wohl aber, dass er mindestens seinem Anspruch des strikten Denkens nicht gerecht wird. Der Autor beweist mit seinem Buch, dass sich viele Phänomenbereiche systemtheoretisch beschreiben lassen, aber führt kaum Argumente dafür an, weshalb wir seine problematischen Beschreibungen akzeptieren sollten. Dazu passt, dass in seiner Charakterisierung rationaler wie logischer Bewertungen Begründetheit keine Rolle spielt. Wer also die Weltsicht eines einflussreichen Systemikers kennenlernen will, wird hier fündig. Wer nach differenzierten Begründungen dafür sucht, eher nicht.
    Fritz B. Simon: "Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen"
    Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2018. 317 Seiten, 54,00 Euro.