Freitag, 29. März 2024

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Frl. Ursula

Herbst unter Hirschen, unter Platzhirschen, ein Leben in Brunft: Witterung aufnehmen, erobern, Revier verteidigen. Männergeschichten von Männern erzählt. Aber nicht am Stammtisch. Bei Heiner Link geht es edler zu. Seine Kerle kommen im gepflegten Ambiente eines Golfclubs zusammen. Und richtige Kerle sind sie allesamt, mit dicken Autos, schicken Eigenheimen, schicken Frauen und einträglichen Jobs als Anwälte, Zahnärzte, Manager und Händler, dazu mit 40 im besten Alter. Im Golfclub ist man unter sich und offenbart einander freimütig seine aktuellen und verflossenen Paarungsabenteuer und alle möglichen Weisheiten über Frauen.

Christoph Schmitz | 03.09.2003
    Er habe in seiner bisherigen Karriere mit exakt 52 Mandantinnen verkehrt. Von der 19-jährigen Abiturientin bis hin zur 53-jährigen Chefsekretärin sei alles dabei gewesen, was man sich nur vorstellen könne. Alle krank, sagte er. Alle wollen sie heiraten. Die Jüngeren wollen ein Haus und Kinder, die Älteren teure Kleider und Luxusurlaube. Es gebe natürlich auch die ehrgeizigen, fügte er hinzu, diejenigen, die 16 Stunden am Tag in einer Werbeagentur schuften. Die, so Seybold, wollen einen adäquaten Partner, der auch keine Zeit fürs Leben hat.

    So klar und platt wie Herr Seybold bringen sie alle ihre Erfahrungen auf den Punkt und spenden einander für ihre pointiert vom Leder gezogenen Geschichten "großes, kapitales Gelächter", wie es an einer Stelle heißt, ein Gelächter, in das man als Leser zumindest innerlich einstimmt. Und das liegt vor allem an der Art wie Heiner Link diese Geschichten vermittelt. Er hat nämlich einen Ich-Erzähler eingefügt, der zwar namenlos bleibt, der aber Mitglied dieser Männerrunde ist und darüber hinaus freundschaftlich verbunden mit Scherer, seinem Nachbarn und Vorsitzenden des Golfclubs. Und dieser Ich-Erzähler zitiert nicht realistisch platt den Originalton, sondern er erstattet Bericht, und das in einem Bürokratendeutsch, aus dem jeglicher persönliche Erzählton verdunstet ist, in dem aber zugleich ein zwischen Spießigkeit und verkappter Lüsternheit changierender Ton schimmert. Er hat die Maske des Spießers aufgesetzt. So bei Scherers Geschichte eines Jugendabenteuers.

    Besagte Jutta habe die zarte Berührung ihres Oberschenkels akzeptiert und auch weitere Erkundungen hingenommen. Es habe ein wenig gedauert, bis er sich zu ihrem Geschlechtsorgan vorgetastet habe, (er sei aber dann sogleich mit zwei Fingern in sie eingedrungen und habe Erregung festgestellt. Zu seiner vollkommenen Überraschung sei er von ihr schließlich mit den Worten "Mach schon, mach schnell" aufgefordert worden, sie zu penetrieren.)1 Zum erfolgreichen Vollzug des Geschlechtsverkehrs habe es allerdings der Mithilfe eines leeren Bierträgers bedurft, da seine Partnerin, wie bereits geschildert, erheblich größer war als er und außerdem hohes Schuhwerk trug.

    Nun ist dieser Erzähler alles andere als ein verklemmter Archivar fremder Lüste. Er ist ein Anarchist, zumindest ein Rebell, ein Dichter vielleicht, ein in der Geisteswelt bewanderter Nachdenker allemal. Auf dem Golfplatz verstößt er unter dem Deckmantel des Anfängers gegen alle Spielregeln. Auf den Kacheln des Herrenklos im Club notiert er Aphorismen und poetische Fragmente.

    Tau und Glühwürmchen. Entfeme dich wieder von den Glocken. Kein Schatten des Göttlichen dringt mehr in unsere Höhle; diese ist verkachelt.

    Der Vorstand ist empört. Die Welt droht aus den Fugen zu geraten. Die unablässigen Graffitti-Attacken des unbekannten Täters werden immer wieder ausgelöscht, Videoüberwachung folgt. Dieser Erzähler hinter der Maske des biederen Nachbarn provoziert md^l wa, er bringt das Problem von Brunst und Tugend auf den philosophischen Punkt, mit Nietzsche:

    Ist Keuschheit nicht Thorheit? Aber diese Thorheit kam zu uns und nicht wir zu ihr. Ich bin unschuldig. Es ist die Torheit, die zu mir kam, und ich schwöre Stein und Bein, dass mir die Keuschheit schwer fallt, dass sie mir zu widerraten ist und dass ich, sollte dieser Zarathustra noch leben, in seinen Orden eintreten werde, und zwar so sicher wie das Amen in der Kirche.

    Heiner Links Erzähler ist ein heimlicher Casanova. Er macht sich mit Erfolg an die Frauen ran, auch die seiner Freunde, obwohl er längst Vater einer Tochter ist und dies von einer Frau, der er ein halbes Leben lang den Hof gemacht hat, bis sie ihn endlich erhörte, das "Frl. Ursula". Die Geschichte seines Werbens um Fräulein Ursula, die Kassiererin vom Supermarkt, ist der rote Faden im Reigen der im Club zu Gehör gebrachten Amouren, die Geschichte eines unablässigen Scheitern, erzählt mit schöner Selbstironie.

    Die Selbstironie, die Ironie überhaupt machen auch den Witz des Romans aus. "Zum Glück strotze diese Welt nur so von Idioten. Das mache es für den Rest der Menschheit spannend" - so wird einmal Rechtsanwalt Leybold zitiert und da hat er Recht, insofern er selbst zu diesen Idioten gehört und Heiner Link von ihm und allen anderen idiotischen Männern erzählt mit ihren idiotischen Reflexen, ihren pawlowschen Phantasien und Strategien. Als dümmliches Triebtier zeigt er den Mann - und manchmal auch die Frau - samt seiner lächerlichen Eitelkeit und Stolz. Den Roman als Welttheater unter freiem Himmel hat Link zur Kabarettbühne im Souterain umgebaut. Verführt und kopuliert wird hier wie in Federico Fellinis "Casanova", rein mechanisch also, wie die Spieluhr mit dem trällernden und sich auf und ab bewegenden Vögelchen, das Casanova zu jedem Akt aufzieht: Platt, trivial und klischeehaft abschnurrende Liebesgeschichten, aber glaubhaft, weil gut erzählt. Wozu nicht nur das Maskenspiel und die Ironie gehören, sondern auch ein unerwartet poetischer Ton oder der Nachklang eines poetischen Tons aus der Romantik, ironisch gebrochen natürlich:

    Dann wurde es Frühling, und ich hatte eine große Freude an den Blumen. Und dann der Sommer, die Kastanien standen im Saft, dass man sich dachte, das gibt's doch gar nicht.