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Frühkindliche Entwicklung
Das Wir kommt vor dem Ich

Am Anfang steht das Wir: Babies erleben sich in enger Wechselbeziehung zu ihren Bezugspersonen. Erst ab dem fünften Jahr beginnen Kinder, die Perspektiven von Wir und Ich zu trennen. Nun liefern neue Studien faszinierende Belege für diesen Prozess – abgeleitet vom frühkindlichen Versteckspiel.

Von Martin Hubert | 03.08.2017
    Die Füße einer Mutter und eines Kindes sind auf einer Hängematte zu sehen.
    Kinder sind Beziehungswesen, sie nehmen sich als Teil eines großen Ganzen wahr. (Imago / Westend61)
    Der Säugling strampelt, die Mutter beruhigt ihn. Der Säugling brabbelt, die Mutter brabbelt zurück. Die Mutter lacht, der Säugling strahlt.
    Nur Mimik, Gestik und Laute sind im Spiel. Aber der Dialog zwischen Babies und Müttern kann unglaublich intensiv sein, so als wären sie miteinander verwachsen. Ein erstaunliches Wechselspiel, das lange vor der Zeit stattfindet, in der das Kind Ich zu sich sagt. Colin Trevarthen von der Universität Edinburgh, ein Pionier der Säuglingsforschung, ist daher davon überzeugt, dass am Anfang der Entwicklung eines Menschen das Wir steht. Das Ich eines Babies bildet sich in enger Verbindung mit der Mutter.
    "Wir haben dieses Wechselspiel zwischen Babies und Müttern aufgenommen und detailliert studiert. Die Babies waren dabei sehr rege, achtsam und aufnahmefähig. Ab dem zweiten Monat konnten sie wirklich gut mit ihren Müttern kommunizieren. Wir suchten dann nach einem passenden Begriff dafür und übernahmen das Wort Intersubjektivität von dem Philosophen Jürgen Habermas. Wir sprechen von einer angeborenen Intersubjektivität."
    Trennung von Ich und Wir erst ab dem fünften Lebensjahr
    Der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas geht davon aus, dass jeder Mensch eng auf andere angewiesen ist und seine Identität nur gemeinsam mit diesen ausbilden kann. Ähnlich hat der Philosoph Martin Buber bereits Anfang des 20. Jahrhunderts davon gesprochen, dass jedes Ich ein Du braucht, um sich zu entwickeln. Die Säuglingsforschung hat bereits gute Belege für diese Theorien geliefert. Nun konnte die Psychologin Henrike Moll von der University of Southern California zusätzlich zeigen, dass Kinder sogar bis zum fünften Lebensjahr auf ein Wir hin orientiert sind. Sie interessierte sich für ein Phänomen, das jeder von kleinen Kindern kennt, wenn sie Verstecken spielen.
    "Das ist wahnsinnig aufregend, sich zu versuchen vor anderen zu verstecken, also sich dem Blick des anderen unzugänglich zu machen. Aber was man auch gleichzeitig findet ist, dass kleine Kinder wahrscheinlich schlecht darin sind, Verstecken zu spielen. Sie verstecken sich einfach, indem sie ihre Augen bedecken oder schließen und der Rest des Körpers bleibt sichtbar. Die Idee ist also im Grunde wie der Vogel Strauß: Wenn ich nichts sehe, dann können mich andere auch nicht sehen."
    Ein "Wahrnehmungs-Wir"
    Lange Zeit interpretierten Psychologen das so, als seien die Kinder nur auf sich selbst bezogen. Sie würden einfach von sich – ich sehe nichts – auf andere schließen. Die Experimente von Henrike Moll belegen jedoch, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. Denn die Kinder ziehen den gleichen Schluss, wenn andere Personen die Augen verdecken:
    "Wenn man die Kinder fragt, ob sie eine Person sehen können, die ihre Augen geschlossen hat, dann sagen die Kinder 'Nein', also im Alter von bis zu fünf Jahren verneinen die Kinder die Sichtbarkeit eines anderen für sie, wenn der andere sie nicht auch gleichzeitig sieht. Und wir haben argumentiert, dass die Kinder ein beidseitiges Verständnis von Personenwahrnehmung haben."
    Die Kinder schließen nicht nur von ihrer Perspektive aus auf andere, sondern auch umkehrt von einer anderen Person auf sich selbst: "Wer mich nicht sieht, den sehe ich auch nicht". Anscheinend gibt es im Denken der Kinder tatsächlich ein gemeinsames "Wahrnehmungs-Wir". Und zwar auch dann, wenn sie selbst gar nicht beteiligt sind. Denn die Kinder sagen auch, dass sich zwei andere Menschen gegenseitig nicht sehen können, wenn nur einer die Augen geschlossen hat. Und das betrifft auch andere Sinne.
    "Wir haben auch herausgefunden, dass sich das ebenso anwenden lässt auf die anderen Modalitäten wie das Hören und auch das Sprechen sogar. Also wenn jemand die Ohren verschließt oder sich die Ohren abdeckt, dann sagen sie, dass sie den anderen nicht hören können und wenn der andere den Mund verschlossen hat oder sich mit den Händen den Mund zuhält, dann sagen sie, dass sie zu dem anderen jetzt nicht sprechen können.
    Sich erleben als Teil eines größeren Ganzen
    Moll konnte zusätzlich belegen, dass diese Art der Wahrnehmung nur in bezug auf andere Personen gilt, nicht in bezug auf Sachen.
    "Wenn sie einen Gegenstand angucken, der teilweise verdeckt ist, zum Beispiel so ein Spielauto und wir verdecken die Frontlichter oder wir haben ein Haus und wir verdecken die Fenster, dann sagen sie, natürlich können sie das Haus jetzt noch sehen oder natürlich können Sie das Auto noch sehen."
    Henrike Molls Schlussfolgerung: Kinder sind in ihrem Personenverständnis auch nach dem Säuglingsalter noch stark von einem Wir-Denken geprägt, sie sind Beziehungswesen.
    "Das Kind versteht sich immer erst Mal als Beteiligter und als Teil eines größeren Ganzen und eines größeren sozialen Gefüges, um dann zu verstehen, was eigentlich genau die eigene Perspektive ist und dann die des anderen, das ist aber sekundär."
    Von Anfang an auf andere Menschen bezogen
    Diese Unterscheidung müssen die Kinder aber erst allmählich lernen, und zwar wieder in gemeinsamen Situationen mit erwachsenen Personen. Diese Befunde passen erstaunlich gut zur Resonanztheorie des Menschen, die der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa vor kurzem aufgestellt hat. Unter "Resonanz" versteht Rosa jegliche Form von elementarer Anverwandlung zwischen Menschen. Es gibt etwas, was beide auf gleiche Weise "schwingen" lässt - wir sehen beide etwas oder wir sehen beide nichts. Diese innere Resonanz lässt ein gemeinsames Ganzes entstehen, ein sinnliches, spürbares Wir, das dem Ich zugrunde liegt.
    "Ich glaube wirklich, dass Weltbeziehungen von Anfang an Resonanzbeziehungen sind, so dass ich sagen würde als anthropologisches Prinzip: Tatsächlich, menschliche Wesen - insbesondere übrigens Kinder und kleine Kinder - sind Resonanzwesen. Sie sind von Anfang bezogen auf Welt und auch auf 'signifikante Andere', also auf Menschen, die mit ihnen in ein 'Verantwort-Verhältnis' treten, sodass ich sagen will, Resonanzbeziehungen sind das primäre, sie gehen allem anderen voran, sie gehen sogar dem Subjekt voran."
    "Eine Art Ernüchterungsprozess"
    Die eigene Perspektive wächst aus der geteilten Wir-Perspektive heraus. Henrike Molls empirische Studien haben die Belege für solche Beziehungstheorien des menschlichen Subjekts noch einmal erweitert. Und sie stützen Theorien wie die von Hartmut Rosa, die den Gedanken der Inter-Subjektivität noch einmal radikalisieren und von einer fundamentalen, sinnlich geprägten Resonanzbeziehung zwischen menschlichen Wesen ausgehen. Lange Zeit bleibt die Wir-Wahrnehmung nach Henrike Moll das Fundament, auf dem Kinder in die soziale Welt hineinwachsen. Erst ab dem fünften Lebensjahr wird es für sie sozusagen zur zweiten Natur, die Perspektiven des Ich und des Du klar voneinander zu trennen.
    "Im Grunde geht ihnen da etwas abhanden, wenn sie dann mit fünf Jahren verstehen 'Gut, ja, ich kann dich noch sehen auch wenn du mich nicht siehst' oder 'Ich kann dich hören, auch wenn du mich nicht hören kannst' oder 'Ich kann mit dir sprechen, auch wenn du nicht mit mir sprechen kannst', und 'Ich kann mich auf dich beziehen, ohne dass du dich gleichzeitig auf mich beziehen kannst'. Das lernen sie zu verstehen, das ist aber so eine Art Ernüchterungsprozess."
    Wie stark wirkt sich das auf die Wir-Orientierung des Erwachsenen aus, die ja nicht völlig verschwindet? Werden hier auch die Weichen gestellt für die Persönlichkeitsentwicklung, etwa ob jemand zum Egozentriker wird oder sozial eingebunden bleibt? Das sind Fragen, die die neuen Befunde aufwerfen und auf deren Beantwortung man gespannt sein darf.