Donnerstag, 28. März 2024

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Fünf Bilder meiner Frau

Eigentlich heißt er Methusalem. Seine Mutter hat ihm prophezeit: "Du wirst uns alle überleben". Als Erwachsener tauscht Methusalem den lästigen Vornamen mit dem schickeren "Max" aus. Die Prophezeiung erfüllt sich trotzdem. Mit vierundachtzig hat der jüdische ehemalige Konfektionsschneider sie alle überlebt. Die Mutter - wegen einer Blutvergiftung in jungen Jahren gestorben - , die meisten Verwandten - ermordet in den Konzentrationslagern - und vor einem Jahr Telma, seine Frau.

Carine Debrabandère | 01.10.1999
    Telma aber läßt Max nicht los. Die Trauer um sie wird vom Hin und Her seiner Gefühle erschwert. Denn Telma war eine rätselhafte Frau. Und Max muß sich eingestehen, daß das Leben mit der intellektuellen, wohlerzogenen Schönheit nicht immer ganz einfach gewesen ist. "Uneinnehmbar" fällt ihm ein, wenn er versucht, seine Frau zu definieren. Dazu Agnès Desarthe:

    "Diese Liebe zwischen Max und Telma ist der Gegenpol von Gefühlen, die heute immer wieder vermarktet werden. In den Medien sieht man nur Leidenschaft, Schweiß auf dem Korper, Stöhnen, Flugzeuge hin und zurück. Es ist alles so pubertär... Es haftet nicht, es kann Gewohnheit und Alltag nicht standhalten. Ich finde das sehr deprimierend. Die Liebe von Max und Telma besteht dagegen aus viel Nörgeln, ja sogar manchmal aus Zorn. Aber es ist eine Beziehung, die Geheimnisse und Selbständigkeit einräumt. Da findet keine Fusion statt, alles bleibt rätselhaft."

    Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau beschließt Max einen - wie es heißt - Dibbuk zu bannen, Telmas Geist, der überall seine Spuren hinterläßt. Nur eins kann wirken: die blanke Konfrontation mit dem Anblick der Toten. Max beauftragt mehrere Künstler, Telmas Portrait zu malen. Zur Hilfe bekommen die Künstler fünf Fotos seiner Frau..., die leider allesamt unscharf sind. Max weiß jedoch genau, was er sucht: Das gewisse Leuchten im Blick, das er in jedem der Fotos zu finden glaubt. Die Leidenschaft, die er aus ihrer Traurigkeit immer wieder herauslocken konnte.

    Voller Scheu tritt der alte Witwer eine Reise in die Welt der Kunst an. Im Laufe der Begegnungen rütteln auch die oft skurrilen Gespräche mit den Malern Erinnerungen voller Melancholie wach: Die Flucht aus dem polnischen Arbeitslager, die Ankunft des Nylons, des revolutionären Materials in die Konfektionsateliers, der Besuch des neuen Firmenbesitzers, der "kein Rassist ist" aber der schon betonen möchte, daß "der Stil des kleinen jüdischen Schneiders ausgedient hat". Der erste Maler, bei dem diese Reise in die Vergangenheit erfolgt, heißt Angus, "Concept-Künstler". Desarthes:

    "Normalerweise schreibe ich sehr spontan. Ich bringe Worte zu Papier und gucke, was mit ihnen passiert. Für dieses Buch aber habe ich eine viel größere Konstruktion gebraucht. Ich habe viele Schemata aufgebaut, unter anderem um die Idee der fünf Sinne mit den fünf Bildern zu vereinbaren. Für das Kapitel mit dem erfolgreichen Maler Angus zum Beispiel. Bei ihm wußte ich, daß die Haut, der Tastsinn am wichtigsten wären. Und dann habe ich eine Vision gehabt. Ich habe plötzlich auf einen Zettel geschrieben: Angus' Frau hat ein verbranntes Gesicht. Angus ist der erste Maler, den Max trifft. Es ist deswegen wichtig, daß er abstrakt malt. Max braucht einen Schock zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Mir gefiel die Idee, daß ein abstrakter Maler mit einer Frau ohne Gesicht verheiratet ist. Aber vielleicht ist es nur der schwarze Humor, der durchkommt."

    Der in Frankreich viel gepriesene Humor von Agnès Desarthe taucht meistens da auf, wo man ihn am wenigsten erwartet: in Verbindung mit dem Holocaust. Rückblenden aus Max Lebensgeschichte werden mit einer scheinbaren Leichtigkeit beschrieben, auf die wahrscheinlich nur jüngere Autoren wie die 33jährige Desarthe zurückgreifen können.

    Bei der Beschreibung der anfänglichen Liebe zwischen Max und Telma zum Beispiel. Nach dem Krieg, nach dem Tod von Telmas erstem Mann im Konzentrationslager, fragt sich die Erzählperson: "Warum hat sie gerade ihn gewählt, als sich die Wirklichkeit in einem makabren Ruck entschlossen hatte, seinen Wunschtraum zu erfüllen, indem sie ihren Mann in einem Ofen verschwinden ließ?"

    Lustig und grausam zugleich ist auch die holprige Frage einer jungen Künstlerin als sie erfährt, daß Max Jude ist. Sie fragt tief erschrocken: "Dann haben Sie den ... den Holocaust mitgemacht"? Max lacht laut los und antwortet . "Nein, nicht ich - sie waren es." .

    Die Leichtigkeit des Seins verdeckt aber etwas schmerzhaftes. Max ist ein Davongekommener, ein "gräßlicher Egoist" wie er selbst von sich sagt, "der nichts mit Unglück zu tun haben will":

    "Max hat den Holocaust nicht erlebt. Und er fühlt sich deswegen schuldig. Er ist nicht deportiert worden, aber der Rest der Familie ist ausgerottet worden. Der Humor, der im Buch durchkommt, das ist Max' Waffe gegen die Schuld. Ich kenne diese Haltung. Ich komme aus einer gemischten jüdischen Familie. Mütterlicherseits sind es osteuropäische Juden. Ein großer Teil der Familie ist in den Lagern gestorben. Da kommt bei diesem Thema kein Humor auf. Väterlicherseits sind es aber Juden vom Mittelmeerraum, die die Deportation nicht gekannt haben. Und da kommt der Selbstverteidigungshumor durch. Der Humor der Nichtdabeigewesenen. So werde ich meine Familie immer in Erinnerung haben: Humor war unser primäres Kommunikationsmittel."

    Humorvoll ist auch das Ergebnis der Bildaufträge: Mal erscheint Telma als Collage mit Perlmuttknospen und leuchtender Girlande, mal als orangefarbener Nebel oder am schlimmsten als gewisses Etwas, das an eine Bauernpastete erinnert. Keine Spur von dem kleinen Leuchten in den Augen. Und kein Wunder, daß Max mit keinem der Gemälde zufrieden ist.

    Schlimmer als das: Er ist von Schuldgefühlen geplagt. Denn er spürt, daß er sich nicht über das biblische Bilderverbot hinwegsetzen durfte, um Telmas wahres Gesicht ans Tageslicht zu zerren. Ein Traum, der an ein Gemälde von Chagall erinnert, befreit ihn von seiner Verwirrung: Max nimmt ein Taschenmesser und löst Telmas Portrait von der Leinwand ab. Dann sieht er, wie sie, "flüchtig wie ein Lufthauch, ein letztes mal sein Ohr streichelt und im All zerstaubt".

    Zurück bleibt für den Leser Max rührende Figur des verstörten Witwers, voller Gerrissenheit und Lebensmut. "Fünf Bilder meiner Frau" ("Cinq photos de ma femme") ist eine ungewöhnlich leichtbeflügelte Geschichte über Tod und Abschied mit glücklichem Ende: Max beginnt nämlich eine weitere - diesmal reale - Reise, die er immer wieder aufgeschoben hatte. Er fliegt zu seinen zwei Kindern, nach Bolivien und Japan. Ein Flug in die aufgehende Sonne.