Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Fünf Jahre Bürgerkrieg
"Die Syrer sind sehr widerstandsfähig"

Das Welternährungsprogramm hat die Waffenruhe in den vergangenen zwei Wochen genutzt, um die Hilfslieferungen in die belagerten Regionen in Syrien zu verstärken. Derzeit versorgt die UNO-Organisation rund vier Millionen Syrer, die vom Hungertod bedroht sind. Direktor Jakob Kern schildert im Deutschlandfunk die dramatische Lage der Bevölkerung.

Jakob Kern im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 15.03.2016
    Ein syrischer Junge in Kafr Batna mit Hilfsgütern des World Food Programme
    Ein syrischer Junge in Kafr Batna mit Hilfsgütern des World Food Programme. (AFP / Amer Almihibany)
    Tobias Armbrüster: Es ist heute genau fünf Jahre her, dass der Krieg in Syrien begonnen hat. Ein halbes Jahrzehnt Krieg schon und zurzeit gibt es wieder Bewegung in den Friedensbemühungen. Gestern die Ankündigung aus Moskau, einen Teil der russischen Truppen aus Syrien abzuziehen. Außerdem natürlich die Friedensgespräche in Genf. Aber was passiert in Syrien auf dem Boden im Jahr fünf dieses Krieges? Wie läuft die Versorgung der Bevölkerung mit Essen und mit Trinken? Darüber habe ich vor gut einer Stunde mit Jakob Kern gesprochen. Er ist Direktor des Welternährungsprogramms in Syrien der Vereinten Nationen und wir haben ihn in Damaskus erreicht.
    Jakob Kern: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Kern, lassen Sie uns das vielleicht zunächst mal klären. Wie gut hält die Waffenruhe in Syrien derzeit?
    Kern: Die hält ziemlich gut seit zwei Wochen, mit einigen Ausnahmen, aber es hat uns erlaubt, unsere Hilfslieferungen in belagerte Gebiete zu verstärken, und es hat vor allem der Bevölkerung eine Pause gegeben. Als wir am letzten Sonntag in einer der belagerten Städte waren, haben die Kinder Fußball gespielt. Und ich glaube nicht, dass sie das seit fünf Jahren jemals getan haben am helllichten Tag, ohne Angst zu haben, von einer Bombe oder von einem Scharfschützen getroffen zu werden.
    Armbrüster: Wie genau läuft denn Ihre Arbeit dort? Wie genau verteilen Sie solche Hilfsgüter in Städte, die ja zum Teil schon sehr lange belagert sind?
    70 Lastwagen pro Tag
    Kern: Wir haben geschätzt in etwa sechs Millionen Leute, die vom Hungertod bedroht sind. Davon unterstützt das Welternährungsprogramm vier Millionen mit monatlichen Lebensmittelrationen. Das ist eine riesige Operation, die kostet etwa zwei Millionen Euro am Tag, und wir können das nur machen dank großzügigen Spenden. Deutschland ist da in diesem Jahr mit einem sehr guten Beispiel vorangegangen. Dank der Zusage in der London-Konferenz haben wir bis Mitte des Jahres unsere Bücher voll. Aber man muss sich das vorstellen: Das sind eine halbe Million Tonnen Lebensmittel, die wir da pro Jahr einführen, 70 Lastwagen pro Tag. Das ist eine große Operation und das ist für Leute, die wir relativ gut erreichen können. Ein Drittel davon machen wir von Jordanien in Rebellen- oder Oppositionsgruppen und von der Türkei direkt in den Norden für Oppositionsgruppen. Der Rest ist von Damaskus aus gesteuert.
    Armbrüster: Sind Sie selbst bei solchen Transporten mit dabei?
    Kern: In den normalen Transporten zu den vier Millionen nicht. Da haben wir Partner, der Syrische Rote Halbmond. Die machen etwa die Hälfte. Und dann andere Nichtregierungsorganisationen, sogenannte NGOs. Die verteilen die Lebensmittel von uns. Wir bringen sie ins Land, wir verpacken sie. Das sind Schachteln mit Familienrationen, etwa 50 bis 60 Kilo. Die Partnerorganisationen, die verteilen sie dann. Da hat es lokale Komitees, die genau wissen, wer am meisten was braucht. Die haben diese Listen. Wenn es aber in belagerte Städte geht, das sind UNO-organisierte Konvois, mit denen wir mitgehen, ja.
    Armbrüster: Sie haben dann ja einen sehr guten Einblick in das Leben in diesen Städten in Syrien, wenn man da überhaupt noch von Städten reden kann. Können Sie uns schildern, wie läuft der Alltag dort in Dörfern, in Gemeinden, die seit Jahren unter diesem Krieg leiden?
    Kern: Es ist sehr unterschiedlich. Die Teile der Städte, die nicht zerstört sind, da geht das Leben mehr oder weniger normal weiter. Da hat man Taxis, Läden und alles. Wenn man in Damaskus in die Altstadt geht, merkt man nichts vom Krieg. Zehn Kilometer weiter in einem Vorort, da war ich schon zweimal mit einem Konvoi. Das ist ein belagerter Stadtteil mit 54.000 Einwohnern. Da ist kein Haus mehr ganz. Ich habe keine einzige Glasscheibe gesehen. Die meisten Häuser sind teils beschädigt, oder total beschädigt. Es ist, wie wenn man in einer Geisterstadt hineinfährt und da leben aber noch 50.000 Leute drin. Die können nicht raus, die können nicht hinein. Zum Teil sind die Kinder in der belagerten Stadt und die Eltern waren außerhalb, als die Belagerung anfing, und die haben sich zwei Jahre lang nicht gesehen.
    Lokale Komitees regeln Verteilung
    Armbrüster: Und was passiert dann, wenn Sie dort mit Ihren Lebensmittellieferungen ankommen und diese Pakete verteilen? Werden Ihnen diese Pakete dann aus den Händen gerissen, oder gibt es möglicherweise Streit um die Pakete?
    Kern: Nein, überhaupt nicht. Das erste Mal war es etwas gespannt, ja. Da gab es Streit, wenn ein Sack Mehl zu Boden fiel. Aber die Lebensmittel werden zuerst in ein Lagerhaus gebracht und am nächsten Tag verteilt. Meistens kommen wir spät in der Nacht. Die Städte sind sehr organisiert, die haben ihre Komitees. Die wissen genau, wo welche Lebensmittel gelagert werden, und am nächsten Tag bekommt dann jede Familie ihr Paket. Das geht sehr organisiert. Selbst wenn die Leute wie in diesen Städten ausgehungert und sehr dünn sind, ist es nicht so, dass sie unsere Lastwagen gestürmt haben und die Lebensmittel aus den Händen gerissen haben.
    Armbrüster: Wir sprechen jetzt immer über Lebensmittel. Was heißt das genau? Was essen die Leute in Syrien, die von Ihnen versorgt werden?
    Kern: Das ist eine Familienration. Da gibt es Linsen, Reis, Weizenmehl fürs Brot, es gibt Kichererbsen für den Humus, es gibt Salz, Öl, Zucker, eben alle Grundnahrungsmittel, die man so braucht für 1700 Kilokalorien Diät am Tag, was nicht sehr hoch ist, aber das ist der Minimum-Standard.
    Armbrüster: Das heißt, auch in diesen geplagten Städten können die Menschen nach wie vor in ihren Küchen kochen? Da gibt es nach wie vor Öfen und da kann man ein Mittagessen zubereiten?
    Kern: Elektrizität gibt es keine. Gas gibt es keines. Das Holz, das die zerstörten Gebäude hergaben, wird als Brennholz verwendet. In einer Stadt habe ich gesehen, dass sie auch begannen, Olivenbäume als Brennholz zu verwenden. Es ist sehr, sehr primitiv, aber sie finden einen Weg, um ihre Lebensmittel zu kochen.
    Armbrüster: Herr Kern, zum Schluss noch eine eher diplomatische Frage mit einem großen politischen Rundumschlag. Wir hören jetzt seit gestern, dass Russland einen Teil seiner Truppen aus Syrien abziehen will. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für diesen Konflikt und für die Lage im Land?
    Kern: Ich bin der Leiter einer humanitären Organisation. Ich hoffe einfach, dass der Waffenstillstand hält und so schnell wie möglich Frieden einkehrt, damit die Bevölkerung die nötige Ruhe bekommt und sich wieder aufbauen kann. Die Syrer sind sehr widerstandsfähig. Die wollen zurück in ihre Häuser. Elf Millionen haben ihr Haus verloren. Aber wenn ich frage, was wollt ihr am meisten, sagen sie Frieden und zurück zu unserem Leben. Wir wollen zurück zu unserem Haus, wir wollen unseren Beruf zurück, unser Einkommen zurück haben. Wir wollen nicht auf Hilfe angewiesen sein.
    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Jakob Kern, der Leiter des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen in Syrien. Wir haben ihn heute Morgen in Damaskus erreicht. Vielen Dank, Herr Kern, für Ihre Zeit und für dieses Gespräch.
    Kern: Vielen Dank auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.