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Fünf Jahre NSU-Prozess
Ein Ultra-Marathon für Berichterstatter

Am 6. Mai 2013 begann in München der NSU-Prozess. Und noch immer sitzen Journalisten auf der Beobachtertribüne und protokollieren jeden einzelnen Prozesstag. Wie verhindert man da Überdruss? Drei Journalisten erzählen.

Von Susanne Lettenbauer | 07.05.2018
    Blick in den Saal 101 im Strafjustizzentrum in den Nymphenburger Straße in München (Bayern) am 12.04.2013. Im Saal 101 findet ab dem 17.04.2013 der Prozess gegen den NSU statt.
    Schauplatz des NSU-Prozesses: der Saal 101 im Strafjustizzentrum München (dpa / Andreas Gebert)
    Im Büro von Annette Ramelsberger hängt eine große Landkarte von Deutschland. Grüne Fähnchen zeigen die Orte, an denen der NSU gemordet hat. Kassel, Dortmund, Nürnberg.
    "Wir sind in Eckkneipen gestanden und haben die Leute befragt, was im Haus neben ihnen passiert ist. Wir sind auf Brachen gewesen, an dem Ort, wo wirklich der kleine Dönerladen stand, wo ein Mensch ermordet worden ist, wo Rechtsradikale 'Ha, ha, Dönermord' hingeschrieben haben. Das war sehr eindrücklich und wir haben es wie eine große Deutschlandcollage präsentiert."
    Tribüne wurde immer leerer
    Am Anfang war die Gerichtsreporterin der Süddeutschen eine von 900 akkreditierten Journalisten, drängelte sich mühsam auf die Besuchertribüne, die in den fünf Jahren immer leerer wurde. Auf dem ihr 2013 per Losverfahren zugewiesenen Platz sitzt sie noch heute.
    "Also wir können nicht einfach sagen, wir bleiben einfach mal weg von diesem Prozess. Wir haben uns verpflichtet, jeden einzelnen dieser mittlerweile 422 Prozesstage zu begleiten und zu dokumentieren. Das ist natürlich eine Wahnsinnsaufgabe, da wussten wir am Anfang nicht, worauf wir uns einlassen. Aber da kommen wir nun nicht mehr raus."
    Am Anfang veröffentlichte sie - ganz klassisch - Portraits der Angeklagten, führte Interviews mit Verwandten der Opfer, beschrieb das Auftreten der Angeklagten Beate Zschäpe. Schnell war klar, dass eine normale Berichterstattung von jedem einzelnen Verhandlungstag für diesen mittlerweile fünf Jahre dauernden Prozess nicht ausreicht.
    "Wir versuchen mit vollkommen neuen Erzählmethoden an diesen Prozess heranzugehen. Wir bringen eben nicht jeden Tag den Zweispalter oder Dreispalter, so dass man es irgendwann nicht mehr hören kann und einfach nur noch stöhnt."
    Seit dem 6. Mai 2013 hat Annette Ramelsberger, wenn sie nicht in Deutschland unterwegs war, alle Prozesstage protokolliert. Fast jedes Wort mitgeschrieben, abwechselnd mit Journalisten vom Bayerischen Rundfunk und der dpa. Auch das ist Journalismus, meint Ramelsberger:
    "Wir sind ja keine Parlamentsstenografen, das könnten wir gar nicht. Natürlich wir schreiben alles mit, was wir wichtig finden, wir sind ganz natürliche Editoren, Kuratoren dieses Gerichtsprozesses. Wir bringen das ganze Leben dieses Prozesses zu Papier. In erster Linie lassen wir weg."
    Zäh, aber lohnenswert
    "Wir machen jeden Tag ein Gerichtsreportertagebuch, wir machen jeden Tag eine Tageszusammenfassung, die fast immer auch online gestellt wird. Nicht nur von BR, sondern zum Teil auch bei der tagessschau auf der Homepage. Online wird der Prozess von uns wirklich täglich abgebildet."
    Thies Marsen war 2013 einer von mehreren Journalisten des Bayerischen Rundfunks, die sich regelmäßig abwechselten. Seitdem ist ein Kollege pensioniert worden, der andere wurde Korrespondent. Also läuft Marsen die wenigen hundert Meter vom Funkhaus des Bayrischen Rundfunks zum Münchner Justizzentrum mittlerweile allein. Nachakkreditierungen gibt es nicht.
    "Also man bekommt mittlerweile schon nostalgische Gefühle, denn es ist tatsächlich so, dass es bestimmte Abläufe gibt, die sich eingeschliffen haben: Man kennt die Justizangestellten, man kennt den Sanitäter, der immer hinten drin hockt, man kennt die Kollegen, man hockt immer neben denselben Kollegen. Jetzt ist so langsam absehbar, dass das irgendwann ein Ende haben wird."
    Im vergangenen Jahr wurde der Prozess zäh, muss Thies Marsen zugeben. Aber Stoff für Geschichten biete der NSU-Komplex immer noch.
    "Aktuell laufen ja die Verteidigerplädoyers. Und da machen wir zu jedem Angeklagten ein Portrait, ja, das ist auch für uns nochmal spannend, ins Archiv zu gehen, alte Beiträge nochmal anzuhören, sich die ganze Geschichte noch mal zu vergegenwärtigen."
    Ende immer noch offen
    Der heutige Korrespondent in Tel Aviv Tim Assmann koordinierte seit 2013 die ARD-Berichterstattung. Das Interesse am NSU-Prozess blieb eigentlich immer recht hoch, so seine Meinung.
    "Die aktuelle Berichterstattung wird, denke ich, was das Prozessteam angeht, auch bald nach dem Verfahren enden. Aber ich denke nicht, dass die Berichterstattung zum Komplex NSU enden wird. Denn was man jetzt sagen kann ist, dass das Verfahren zu Ende geht, aber viele Fragen offen sind."
    Morgen, am 8. Mai wird der 423. Prozesstag verhandelt. Ein Urteil könnte im Juni fallen, vielleicht auch erst im Juli oder August. Die Prozesstermine stehen bis zum 30. August, 9.30 Uhr fest.
    Annette Ramelsberger geht davon aus, dass das Verfahren in die Revision gehen wird.
    "Meine Aufgabe sehe ich auch nach dem NSU-Prozess darin, zu zeigen, wo etwas wächst, wo wir nicht genau hinschauen, wo wir aber hinschauen müssen und wo der Staat viel zu wenig tut. Und nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft."