Mittwoch, 24. April 2024

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Fünf Sekunden für den Anstand

Seit dem Auftauchen der ersten Dampflokomotive hat sich ein gewisser Argwohn gegenüber jeder Form von Schnelligkeit verbreitet. In der Tat erweckt das Höllentempo des modernen Lebens bei vielen Menschen eine starke Sehnsucht nach der verlorenen Gemächlichkeit. Die Sekunde ist für sie ein Werk des Teufels, denn das Böse hat es meistens eilig. Beispiel: Justin Timberlake und Janet Jackson. Reißt er ihr doch buchstäblich im Handumdrehen ein sorgfältig präpariertes Stück des Büstenhalters ab, so dass die Büste ungehalten aus dem Mieder fluppt. Der Augenblick hat ganz Amerika verrückt gemacht, ach was Amerika: die ganze Welt. Die Jackson-Titte mit dem Sonnen-Nippel ging in die Sportgeschichte, ach was: in die Weltgeschichte ging sie ein – einerseits weil der böse Geschlechtstrieb jählings in die Reinheit amerikanischer Fernsehstuben brach und andererseits weil wir es nicht fassen können, daß die Amerikaner solchen Kokolores glauben.

Burkhard Müller-Ullrich | 15.02.2004
    Tun sie aber. Anstatt froh zu sein, daß Schönheitschirurgie in der Familie Jackson wenigstens einmal erfolgreich war, gruseln sie sich bis zum Paroxysmus. Die Szene dauerte knapp fünf Sekunden, aber fünf Sekunden Fernsehübertragung reichen aus, um die Sexualmoral der USA in äußerste Gefahr zu bringen. Seitdem wird debattiert, wie die Wiederholung von etwas Derartigem zu verhindern sei – ein schwieriges Problem, denn jeder Tag hat 86 400 Sekunden und die Nation ein paar hundert TV-Stationen. Gerade im Fernsehen kommt der Begriff des Augenblicks aber zu seinem eigentlichen Recht: der böse, böse Augenblick, der sich nicht ungeschehen machen läßt und sich in einem strikten Ausschließungszusammenhang zu des Verstandes Tätigkeit befindet. Anders gesagt: Denken ist immer langsamer als Senden. Darin besteht die fürchterliche Wahrheit des Medienzeitalters.

    Aus diesem Grund gibt es jetzt Überlegungen, das Senden zu verzögern. Die Oscar-Preisverleihung in Los Angeles, die am 29. Februar über die Bühne geht, soll genau fünf Sekunden später ausgestrahlt werden, als sie tatsächlich stattfindet. Es sind diese fünf Sekunden, die ein Tittenwächter braucht, um auf einen Abschaltknopf zu dreschen oder einen Stecker rauszureißen, falls sich ein unsittlicher Quickie anbahnt. Die fünf Anstandssekunden schaffen allerdings medienpolitisch eine neue Lage: Frank Pierson, Präsident der amerikanischen Filmkunstakademie, welche die Oscars vergibt, spricht schlicht und einfach von Zensur. Denn wahrhaftig, wenn man das Prinzip der Live-Sendung mit Zeit-Sicherung erst einmal akzeptiert, gibt es nur zwei Möglichkeiten der Weiterentwicklung: zum einen die Verlängerung des Hiatus zwischen Geschehenem und Gesendetem, zum anderen die Erweiterung des Index’ der zu unterbindenden Vorkommnisse.

    Natürlich wäre ein einzelner Zensor mit solchen Sekunden-Entscheidungen schwer überfordert. Selbst ein größeres Gremium bräuchte zur gründlichen Begutachtung des Materials mehrere Stunden, ungefähr so lang, wie der Zeitunterschied zwischen Deutschland und Amerika ist. Warum also nicht gleich und künftighin und immerdar die ganze Oscar-Show bei uns aufzeichnen? Dann wäre wenigstens sicher gestellt, daß überhaupt nichts Aufregendes passiert.