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Fünf Stunden in Roulettenburg

In Dostojewskis Roman geht es um die Liebe und um das Spiel, nie aber um das Liebespiel. Regisseur Frank Castorf hat das Gerüst des Romans für seine Inszenierung beibehalten, doch leider bläht er ihn mit vielen Regieeinfällen unnötig auf.

Von Hartmut Krug | 10.06.2011
    Zwei Männer stürzen eilig auf die Bühne, setzen sich in eine Stuhlreihe vor das Publikum und sind vor allem eins: hektisch und zappelig und entäußern sich auf kaum gebändigtem Erregungslevel fast nur schreiend. Mit ihrem ersten Auftritt geben die beiden den Stil des über fünfstündigen Abends vor.

    Wenn einer der beiden, der Hauslehrer Alexej als Dostojewskis titelgebender Spieler, von Alexander Scheer mit großäugigem und gestischem Variationsreichtum wunderbar ausgestellt, seine Erregung nicht mehr aushält, schlüpft er in den Panzer einer Riesenschildkröte und verkriecht sich über die Bühne. Eine Frau stöckelt herein, schreit lange auf Russisch und wird von ihrem Begleiter mit "Halt die Fresse" angeherrscht. Dann befiehlt der Mann, der Alexej-Schildkröte immer wieder mit "Allez Hopp", über seinen Stock zu springen.

    Was Frank Castorf so erzählt, wirkt für den des Romans unkundigen nicht immer logisch oder verständlich. In Dostojewskis in drei Wochen rauschhaft herunter geschriebenem Roman geht es um die Liebe und um das Spiel, nie aber um das Liebespiel. Die Menschen, die sich in einem Hotel in Roulettenburg zusammen gefunden haben, scheinen unentwegt miteinander zu kämpfen. Um Geld, um Liebe, um Geld für die Liebe. Es sind Spieler, die ständig sich selbst, aber auch die anderen quälen, Sinnsucher im Spielen am Spieltisch und, da Gott wohl tot ist, auch im Beziehungsspiel.

    Man versteht sich nicht, sagt Castorf im Programmheft und nennt Dostojewskis Figuren kalte Menschen, die nicht sprechen, sondern schreien und lispeln. Dostojewskis Figuren sind eindeutig und dabei auch flach. Castorf verleiht ihnen zwar keine psychologische Grundierung, doch eine Identitäts-Mehrdeutigkeit. Jetzt besitzen sie Erfahrungen aus Dostojewskis Zeit wie aus unserer heutigen und verstecken hinter ihrer offenbaren Identität auch mögliche weitere. Das gibt dem Regisseur die Möglichkeit, sie mit vielen Assoziationen und Regieeinfällen zu beschweren.

    Castorf hat das Gerüst des Romans beibehalten: Der Hauslehrer Alexej schaut zurück auf seine unglückliche Liebe zu Polina Alexandrowna und erzählt von seinem Weg hin zum reinen Spieler. Doch leider bläht Castorf den Roman mit vielen Regieeinfällen unnötig auf. Konzentration, Rhythmus, Verständlichkeit der Anspielungen, an all das verschwendet der Regisseur wenig Gedanken. Es ist wieder eine dieser Castorf-Inszenierungen geworden, die zugleich eine kleine Wundertüte wie eine große theatrale Büchse der Pandora ist. Mit manchen Albernheiten und provokativ-funktionslosen Anspielungen: Da wird die Mutter der umschwärmten Blanche von einem krächzenden Mann in einer Rotkäppchen-Version gespielt. Vor dem Wolf wird gewarnt mit dem Satz: "Du weißt, was der Wolf in seiner Schanze getan hat!"

    Ein Franzose mutiert zeitweilig zu einem Österreicher, was beim Wiener Publikum gut ankommt. Es wird viel berlinert und vom sauertöpfischen Berlin, vom Café Kranzler und Bürgermeister Wowereit gewitzelt. Bilder und Zitate aus London und Las Vegas werden eingeblendet, und viele Selbstzitate beschweren den Abend, von Heiner Müllers "Der Auftrag" bis zu Kartoffeln und Kartoffelsalat. Der Magen eines riesigen Krokodils dient einem Mann als Rückzugsort, und diese Aktion dem Regisseur als Mittel philosophischer und szenischer Gags, während der das Krokodil ausstellende Mann als Klischee eines kaufmännisch denkenden Deutschen herhalten muss. Dostojewskis Überlegungen über die Russen im Ausland geben Castorf Anlass, in langen philosophisch-politischen Monologen über die Slawenfrage und Russlands Engagement in Asien räsonieren zu lassen.

    Vor allem aber wird über weite Strecken Live-Kino gezeigt. Auf Bert Neumanns mit vielen Kammern bestückter Drehbühne verschwinden die Schauspieler oft hinter Wänden, um auf der Filmleinwand wieder zu kehren. So in einer großen Szene, in der Sophie Rois als reiche Großtante, auf deren Tod und Geld alle gesetzt hatten, am Roulettetisch in eine verhängnisvolle Spielleidenschaft verfällt. Von Dostojewski schwung- und druckvoll erzählt, wird dies bei Castorf zu einer hausbackenen Hinterzimmer-Filmerei.

    Die Beziehungsgespräche allerdings, gezeigt auf der Kinoleinwand, liefern durch ihre schnellen Schwenks und durch Großaufnahmen der intensiven Mimik der Darsteller eine auch emotionale Dramatik, die dem äußerlich aufgedrehten Theaterspiel weitgehend fehlt.

    Immerhin hat Castorf endlich wieder einmal ein tolles Ensemble zusammen bekommen. Neben dem überragenden Alexander Scheer und der souveränen Sophie Rois sind das vor allem noch Kathrin Angerer als Polina und Hendrik Arnst als verliebter alter General.

    Insgesamt aber zeigt mir diese Inszenierung einmal mehr, dass Frank Castorf in einer ästhetischen Sackgasse steckt. Der Volksbühnenchef braucht bei seiner Arbeit unbedingt ein kritisches Korrektiv. Ein kluger Dramaturg muss her, der die ausufernde Einfallslust von Castorf bremst: für eine nicht aufgeblasene, sondern konzentrierte und aufregende Dramatisierung von Dostojewskis "Der Spieler" hätte es höchstens drei statt der von vielen Spannungslöchern beschwerten fünf Aufführungstunden bedurft.