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Fünffachmorde von Solingen
"Seit 25 Jahren fühle ich diesen Schmerz"

Bei dem Brandanschlag von Solingen hat Mevlüde Genc fünf Angehörige verloren. Sie hat sich seitdem für Versöhnung engagiert - doch den Verlust hat sie nie verwinden können. Für die türkische Gemeinde der Stadt wirken die Morde, aber auch die aus ihrer Sicht unzureichende Aufarbeitung bis heute nach.

Von Murat Koyuncu | 29.05.2018
    Mevluede Genç verlor am 29. Mai 1993 zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte.
    "Sie ist die beeindruckendste Frau, die ich je kennengelernt habe", sagte unlängst NRW-Ministerpräsident Armin Laschet über Mevlüde Genc (imago/epd)
    An der Stelle, an der das Haus stand, erinnern heute ein ein Meter hoher, quadratförmiger Gedenkstein und fünf Kastanienbäume an die Opfer des Brandanschlages.
    "Seit 25 Jahren fühle ich diesen Schmerz", sagt Mevlüde Genc. Sie hat bei dem Brandanschlag zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren.
    Die Hilfeschreie der Gestorbenen klingen bis heute nach
    "Es fällt mir immer noch schwer. Es sind zwar 25 Jahre vergangen, doch jeder Tag ist wie damals 1993. Es sind dieselben Schmerzen. Es ist so, als steckte eine Audio-Kassette in mir, die sich ständig zurück spult und erneut von vorne abspielt. Ich habe keine einzige Sekunde Ruhe. Das Schreien und nach Hilfe rufen meiner Kinder habe ich immer noch im Ohr. Das, was ich erleben musste, wünsche ich keinem. Es ist nicht leicht."
    Mevlüde Genc hat bei dem Brandanschlag zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren. Seit dem Verbrechen an ihrer Familie macht sich die heute 75-Jährige für den interkulturellen Dialog stark. Unter anderem wurde Mevlüde Genc dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ihre Trauer und ihre Wut sind allerdings nicht vergangen.
    "Die Täter werden niemals ruhig leben können. Glaubt nicht, dass sie ruhig und sorgenfrei leben. Sie haben Leben genommen. Werden die mit ihrem Gewissen ruhig leben können? Sie haben ihre Strafe bekommen. Der Staat hat ihnen eine Chance gegeben, heute leben sie auf freiem Fuß. Da können wir nichts machen. Wir können auch nicht unsere eigenen Gesetze machen. Gott wird diese Menschen bestrafen. Wenn nicht heute, dann morgen."
    Solingen im Ausnahmezustand
    Selcuk Camlica sitzt in einem türkischen Café, vor ihm eine kleine Tasse Mocca und eine Tageszeitung. Er schaut auf Bilder, die vor 25 Jahren um die Welt gingen. Bilder, die bis heute die Stadt Solingen geprägt haben: Ein von Türken bewohntes Haus, das in Flammen steht.
    Der heute 40-Jährige erinnert sich noch gut an dieses Ereignis.
    "Für mich war das ein großer Schock, wir waren noch ziemlich klein und hatten so einen Röhrenbildfernseher und hatten uns die Sachen angeguckt… Das war schon heftig. Meine Eltern sind sofort dahin gefahren... Es war schon schockierend."
    Auch Ali Sönmez, der am Nachbartisch sitzt, kann den Anschlag nicht vergessen.
    "Wir haben hier natürlich eine Demonstration organisiert, ich habe hier auch an diesem Tag daran teilgenommen. Es gab auch einen Aufstand von Seiten türkischer Jugendlicher. Die haben hier die Autobahn besetzt und einige Straßen gesperrt."
    Tage, an denen Ausnahmezustand herrschte.
    Viele Türken fühlten sich plötzlich fremd und im Stich gelassen.
    Eine Heimat, in der man sich nicht mehr wohl fühlt
    Auch Mustafa Özcan, der vor dem Café sitzt und eine Zigarette raucht, erinnert sich heute noch oft an diese Zeit. Er war damals 20 Jahre alt und gehörte zu jenen jungen Leuten, die ihrer Wut bei den Demonstrationen freien Lauf ließen.
    "Wir wollten einfach das Leben erst einmal stoppen. Autobahn, alles… nichts mehr am Laufen… damit die nur an das denken, was in dem Moment passiert ist. Wir haben protestiert, damit das nicht wieder passieren soll."
    Dort, wo das Haus der Familie Genç stand, wachsen nun fünf Kastanien.
    "Das, was ich erleben musste, wünsche ich keinem."- Dort, wo das Haus der Familie Genc stand, wachsen nun fünf Kastanien. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Die Täter kamen damals für 10 und 15 Jahre ins Gefängnis. Vier junge Männer, zum Teil der rechtsextremen Szene nahe stehend. Sie haben - nach deutschem Recht - die Höchststrafe verbüßt, sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Viele Türken finden das nicht angemessen. Mustafa Özcan sagt, dass er den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hat.
    "Solche Leute muss man für immer reinstecken. Die laufen jetzt herum… wahrscheinlich waren die auch jung. Vielleicht bereuen die das auch heute. Aber es ist vorbei, da sind Leute gestorben! Und ich finde es traurig, dass sie so wenig Strafe bekommen haben."
    Heute, 25 Jahre nach diesem traurigen Ereignis, hat sich in der Stadt Solingen wenig verändert, findet Ali Sönmez.
    Zwar sieht er Deutschland als seine Heimat an - wohl fühlt er sich aber seit dem Brandanschlag nicht mehr.
    "Menschen wurden verbrannt, und heute werden sie erschossen… durch die NSU-Morde… das sind natürlich die Morde, die man entdeckt hat beziehungsweise veröffentlicht hat. Es gibt natürlich auch mehrere Morde, die man bisher nicht erklären konnte."
    Wunsch nach einem größeren Denkmal
    Wenn die Männer aus dem türkischen Café heute an der Gedenkstätte vorbeigehen, wo früher das Wohnhaus der Familie Genc stand, dann ist es einmal mehr da: Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Zu klein, zu unscheinbar finden sie das Mahnmal mit den fünf Kastanienbäumen und dem knapp ein Meter hohen quadratförmigen Stein. Eine große Enttäuschung, sagt Selcuk Camlica.
    "Ich weiß nicht, ob die damit wirklich bewiesen haben, dass die hinter den Menschen stehen, die da weiterhin leben. So ein Andenken, auch mal um die Menschen wachzurütteln… Leute, das ist hier in Solingen passiert! Ein größeres Denkmal zu machen, wäre vielleicht angebracht gewesen."
    Zum 25. Jahrestag des Brandanschlages allerdings werden sich noch einmal alle Augen in Deutschland nach Solingen richten, auf die Stelle, wo das Haus der Familie Genc niedergebrannt ist. Es wird eine offizielle Feier geben, mit Reden des deutschen und des türkischen Außenministers.
    Auch wenn der Besuch von Cavusoglu im Vorfeld stark kritisiert wurde - die türkische Gemeinde in Solingen freut sich über seine Anwesenheit.
    "Wenn er nicht kommen würde, wären wir traurig."
    "Er kommt hierhin, um an die Opfer zu gedenken... was spricht dagegen, was ist verkehrt daran? Das ist schon das Mindeste, dass ein Außenminister hier herkommen sollte und den Opfern gedenken sollte. Dass er es auch darf... dass man ihm nichts unterjubelt und sagt: Er kommt hierher, nur um Wahlpropaganda zu machen."