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Für 30 Silberlinge ...

Der Nachbar hat verbotenerweise einen Baum abgesägt, der Ex-Mann bei den Steuern gemogelt, die Hartz-IV-Empfängerin fährt ein dickes Auto - Anlass genug, jemanden bei der Obrigkeit anzuschwärzen. Denunziation gibt und gab es immer und überall.

Von Andrea und Justin Westhoff. Moderation: Carsten Schroeder | 16.05.2013
    "Bocca di Leone" – ein steinernes Löwenmaul – das war im alten Venedig so eine Art Beschwerdebriefkasten an vielen Häusern und Kirchen der Stadt. Hier konnte jedermann eine Anzeige gegen unliebsame Mitbürger einwerfen.

    Behnke: "Denunziation ist ja so etwas wie eine anthropologische Größe. Die gab es immer und überall, in jeder Gesellschaftsform."

    Dörner: "Schon im Kindergarten oder in der Schule haben wir das Phänomen, Beispiel: Monika schreibt ab, sehen sie mal hin, Herr Lehrer. Das kommt täglich vor."

    Das Phänomen ist grundsätzlich jedem bekannt: Verpetzen, anschwärzen, ein wirkliches oder vermeintliches Fehlverhalten anderer öffentlich machen. Denunzieren – aus dem Lateinischen – heißt zunächst einmal nur: anzeigen. Längst aber hat der Begriff eine negative Bedeutung.

    "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant."

    Der Dichter und Autor der deutschen Nationalhymne Hoffmann von Fallersleben im 19. Jahrhundert.

    "Eine Denunziation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie aus niedrigen Beweggründen erstattet wird. Oder aber Folgen nach sich ziehen kann, die man nicht verantworten kann."

    Definiert Dr. Bernward Dörner, Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Mitunter ist es ganz einfach: Denunziation als Mittel, sich eines Konkurrenten zu entledigen – oder aus Geldgier, für "30 Silberlinge" wie einst Judas:

    "Und Jesus sprach: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten."

    Zur Zeit der Inquisition wurde Denunziation zu einer Art Massenphänomen: Viele Menschen wurden bei der machtvollen Kirche als "Ketzer" angezeigt, zum Großteil anonym und verleumderisch, oft aus niederen Beweggründen wie Neid, Rache oder Eifersucht, häufig aber auch unter Folter. Im 18. Jahrhundert dann, zunächst in Frankreich, gab es erstmals professionelle Polizeispitzel, um staatsfeindlichen Umtrieben auf die Spur zu kommen – hier tritt neben das Negative, Hinterhältige noch eine weitere Dimension: Denn Denunziation unterscheidet sich etwa von Klatsch und übler Nachrede dadurch, dass sie meist gegenüber staatlichen Instanzen erfolgt. Und das bedeutet – selbst wenn die Motive privater Natur sind – dass sie immer auch ein politisch-soziales Phänomen ist.

    "Diktaturen können ohne massenhaftes Denunziantentum gar nicht leben."

    Denunziation wird heute als Herrschaftselement insbesondere totalitärer Staaten verstanden. Folgerichtig beschäftigen sich Wissenschaftler vor allem mit den Strukturen des Verrats in der DDR und in der NS-Zeit. Letzteres allerdings sehr spät, sagt Bernward Dörner, weil das Thema Denunziation sogar von der deutschen Geschichtswissenschaft lange tabuisiert wurde.

    "Ende der 80er-Jahre war Robert Gellately, ein schottischer Historiker, einer der ersten, der hierzu geforscht hat. Und der Blick in die Verfolgungsakten der Gestapo zeigte jedem sehr schnell, dass ohne Denunziation die NS-Herrschaft niemals so schnell und so wirksam hätte etabliert werden können."

    Es fanden sich unzählige Belege für die Denunziationsbereitschaft der "Volksgenossen". Dahinter drohte die Rolle von Gestapo und SS etwas aus dem Blick der Historiker zu geraten. Tatsächlich aber hatte der NS-Staat die gesetzliche Grundlage zur massenhaften Denunziation erst geschaffen: Schon im März 1933 wurde die sogenannte "Heimtücke-Verordnung" erlassen, im Dezember 1934 das "Heimtücke-Gesetz". Zentrale Vorschrift:

    "Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, wird mit Gefängnis bestraft."

    "Damit war dem Denunzianten Tür und Tor geöffnet, sogar im privaten, ehelichen Bereich. Also das Entscheidende ist, dass Normen errichtet werden, die Denunzianten die Gelegenheit und Möglichkeit geben, Leute aus ihrem Umfeld anzuzeigen."

    Nur eine Statistik aus Dörners Dissertation zum Heimtücke-Gesetz: Allein im Jahr 1937 wurden 17.168 Personen aufgrund solcher "anti-nationalsozialistischen" Äußerungen angezeigt, viele weitere, weil sie den Hitlergruß verweigert oder ausländische Rundfunksender gehört hatten, oder "weil sie zu oft in die Kirche gingen" und damit verdächtig waren, dem Führer nicht treu ergeben zu sein.

    "Das Häufigste war aber, dass bei Konflikten in der Nachbarschaft oder bei Kollegen, die persönlich waren, dass dann politische Äußerungen instrumentalisiert wurden. Also insgesamt sind sich die meisten Forscher einig, dass die Trennung von privaten und politischen Motiven zwar schwierig ist, aber der Anteil der Anzeigen, wo man den Eindruck hat aus den Akten, dass die dominant privat sind, ist sehr hoch."

    Die Anzeigebereitschaft wurde von den Nazis anfangs kräftig gefördert, schon allein, um potenzielle Gegner von vornherein einzuschüchtern.

    "Dann aber erwies sich die Denunziationsneigung innerhalb der Bevölkerung als so groß, dass sie dagegen sich gewissermaßen wehrten. Und dazu gehörte, dass beispielsweise die Mannheimer Gestapo in der Tageszeitung einen Artikel lancierte, in dem drin stand: "Die Gestapo ist nicht der Mülleimer der schlechten Gefühle der Bevölkerung." Die Volksgenossen sollten gewissermaßen lernen, dass sie die Richtigen für das Richtige anzeigen."

    Im Rückblick dokumentieren die massenhaften Denunziationen vor allem einen zivilisatorischen Zusammenbruch in Deutschland:

    "Aufgebrachte Gäste zeigten 1937 bei der NSDAP Detmold einen Gastwirt an, weil er in seinem Lokal "immer noch Juden bewirtet" und damit "anständige Volksgenossen" zwingt, ihr Essen – so wörtlich – "in Gegenwart von Schmierjuden" einzunehmen."

    Die Denunzierten bezahlten so etwas oft mit Leben. Und das spätere Argument, wir mussten doch, lässt der Historiker Bernward Dörner keinesfalls gelten:

    "Es gab in der NS-Zeit im Allgemeinen juristisch keine Verpflichtung zur Anzeige, außer bei Hoch- und Landesverrat. Aber nicht die Anzeige von Vergehen wie nach dem Heimtücke-Gesetz etwa, und das war das Delikt, was am meisten angezeigt wurde, und wer nicht anzeigte, dem passierte gar nichts."

    Nach 1945 konnten Denunziationen im Dritten Reich als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" strafrechtlich verfolgt werden. Faktisch gab es im westlichen Teil Deutschlands allerdings nur wenige Prozesse und Verurteilungen.

    Sehr viel konsequenter ging man in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR gegen ehemalige Denunzianten vor – und baute doch gleichzeitig ein noch perfideres System von Kontrolle und Verrat auf.

    "Denunziation ist ein Zeichen antifaschistischer Wachsamkeit" – Erich Mielke 1948.

    Der RIAS Berlin sendete kurz nach dem Mauerbau im August 1961 jeden Tag Interviews mit Flüchtlingen, die es rechtzeitig in den Westen geschafft hatten.

    "Dazu möchte ich sagen, dass ich aus zuverlässiger Quelle weiß, dass ehrenamtlich Genossen aufgefordert werden, in Geschäften, auf Tanzveranstaltungen, auf Bahnhöfen und sonst überall die Stimmung der Leute zu ergründen."

    Als die Mauer 1989 fiel, wurde das Wirken der Staatssicherheit in allen Ausmaßen bekannt: über hundert Kilometer Akten, fast 40 Millionen Karteikarten. Da hatte der Freund den Freund verraten, Eheleute einander gegenseitig, Kinder ihre Eltern. Mit Absicht oder manchmal ohne. In der Betriebskantine, im Sportverein, im Künstlerkreis, am Stammtisch, in der Gemeinde – überall konnte einer sein, der mithörte, um es der Obrigkeit zu verraten.

    "Wenn man eine ganze Reihe von Akten durchgesehen hat, kommt Denunziation sehr, sehr häufig vor."

    Die Historikerin Dr. Anita Krätzner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stasi-Unterlagenbehörde. Sie leitet das Forschungsprojekt "Denunziation – Alltag und Verrat in der DDR".

    "In den allermeisten Fällen wurden solche Sachen angezeigt wie geplante Republikflucht. Oder, dass jemand irgendwie staatsfeindliche Hetze begehen würde. Aber auch eben Sachen, die politisch aufgeladen werden konnten wie zum Beispiel Ehebruch oder vermeintliche Asozialität, also alles, was sich gegen die durch das Herrschaftssystem aufgestellten Normen wandte, konnte denunziert werden."

    Denunziation war auch in der DDR ein Kontroll- und Herrschaftselement, institutionalisiert als fester Bestandteil des Machtapparates. Der Berliner Psychologe Klaus Behnke, selbst DDR-Dissident, hat zwei wichtige Bücher über die Machenschaften der Stasi geschrieben.

    "In den 50er-Jahren war die Denunziation sehr groß. Der SED und der Stasi war aber Denunziation nicht ganz geheuer, weil sie für sie nicht steuerbar war. Und deshalb wurde dieses System des Inoffiziellen Mitarbeiters eingerichtet, sodass dann auch dieser Mitarbeiter innerhalb des Systems der Geheimpolizei eingebunden war. Mit der Einführung des IM konnte man die Denunziation unter Kontrolle kriegen."

    Für Klaus Behnke trifft nunmehr die Bezeichnung Denunziation nicht mehr zu:

    "Das ist eine Verwischung von Begriffen. Denunziantentum ist immer aus eigenem Antrieb heraus. Und die Anforderung zur Denunziation kommt nicht von außen. Und der IM war eingebunden in dieses Vertragssystem, das unterscheidet sich ganz deutlich voneinander."

    Auch Anita Krätzner ist für Differenzierungen, die in den Sozialwissenschaften bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Aber einer vollständigen Trennung der Begriffe "IM" und "Denunziant" kann sie nicht zustimmen.

    "Ich kann erst mal in der Motivlage wenig Unterschiede erkennen zwischen jemandem, der aufgefordert wird, zu denunzieren und jemandem, der das ganz spontan tut. Das ist vielleicht eine größere Hürde, eine größere Überwindung, aber letztendlich ist das ja für die denunziatorische Handlung und für das, was daraus folgt, für die strafrechtliche Verfolgung und auch für die Institution egal, woher sie die Informationen bekommt."

    Hinzu kommt, dass nicht jeder, der eine Verpflichtungserklärung als IM unterschrieben hat, auch wirklich zum Verräter wurde.

    "Ich glaube, dass es tatsächlich auch ein nicht unerheblicher Teil ist, der überwältigt war von dieser Situation, dass bei ihm auf einmal das Ministerium für Staatssicherheit auftaucht und ihn anwerben will. Und ich habe sehr viele von diesen IM-Akten gelesen, wo eine Verpflichtungserklärung unterschrieben wird. Und natürlich auch immer wieder von der Geheimpolizei niedergeschrieben "aus ideeller politischer Überzeugung". Und wo man kaum Berichte mit denunziatorischen Handlungen findet."

    Genau darum, um die konkreten Taten, geht es im Projekt "Denunziation – Alltag und Verrat in der DDR". Wer hat wen wann und warum verraten – ganz egal, ob spontan oder als offiziell-inoffizieller Spitzel. Dazu werden nun die kompletten Akten für ausgewählte Regionen ausgewertet. Es geht um die Verantwortung des Einzelnen. Roland Jahn, seit Januar 2011 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bei der Vorstellung seines ersten Berichtes:

    "Es geht nicht allein um Stasi-Unterlagen, es geht nicht allein um Akten, sondern es geht um Menschen und ihre Schicksale."

    Dörner: "Das Anzeigeverhalten in einer Gesellschaft, das ist ein Spiegelbild der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse."

    Denunziation und eine gewisse Blockwart-Mentalität gab und gibt es in allen, auch in demokratischen Staaten. Erinnert sei hier nur an die McCarthy-Ära in den USA. Auch in Deutschland ging die Denunziation gleich nach Kriegsende munter weiter. Die amerikanische Besatzungsmacht stellte erstaunt fest, wie viele Meldungen sie über ehemalige Anhänger oder Funktionäre des NS-Staates bekam.

    In der RAF-Zeit Mitte und Ende der Siebziger wurde sechsmal häufiger als in den Jahren davor Anzeige wegen des Verdachts einer politischen Straftat erstattet. Suspekt waren da zum Beispiel junge Leute, die in WGs zusammen wohnten.

    Womöglich blüht Denunziation besonders in Zeiten diffuser politischer Unsicherheit. Aber ihre Durchschlagskraft hängt auch von jeweils herrschenden Normen ab. Ein Fall wie die Denunziation des Generals Günter Kießling als angeblich homosexuell ist hierzulande heute nicht mehr denkbar.

    "Da, wo unsere Gesellschaft liberaler und freiheitlicher geworden ist, etwa in der Frage sogenannten abweichenden sexuellen Verhaltens, dort ist die Möglichkeit jemanden zu denunzieren, geringer geworden."

    Sagt der Historiker Dr. Bernward Dörner:

    "Aber in anderen Bereichen, wo beispielsweise die Diskrepanz zwischen Arm und Reich wächst, da ist durchaus anzunehmen, dass Anzeigen zunehmen könnten. Und dass ein soziales Mobbing auch durch die Medien stattfindet. Wo man einzelne Personen vorführt, die irgendwas angeblich gemacht haben, was politisch unerwünscht erscheint."

    Eine kleine Nachricht im "Göttinger Tageblatt" vom 21. Juli 2010:

    "Ein anonymer Anrufer meldet sich beim Göttinger Sozialamt mit der Verdächtigung, eine Hartz-IV-Bezieherin halte sich gar nicht in ihrer Wohnung auf, sondern bei ihrem Freund. Neun Tage später schwärmen Mitarbeiter der Stadt und des Landkreises aus, um bei der Nachbarschaft der Frau weitere Informationen zu beschaffen. Ergebnis: kein Arbeitslosengeld mehr für die Erwerbslose."

    Gerne gehen auch Briefe ans Ordnungsamt, etwa, wenn in einer Kneipe trotz des Rauchverbots dicke Luft herrscht. Und Dörner sieht eine neue Denunziationswelle auf die Gesellschaft zukommen:

    "Durch die neuen Medien, also durch die sozialen Netzwerke wie Facebook, ist die Möglichkeit jederzeit über irgendeine Person irgendetwas zu verbreiten, ist die Möglichkeit, denunziatorisch zu reden weltumfassend global gegeben."

    Denunziation macht krank, die Gesellschaft und das Individuum:

    "Der zentrale Begriff bei den Geschädigten ist natürlich das beschädigte Vertrauen."

    Sagt der Psychoanalytiker Klaus Behnke. Liberalität und offene Konfliktkultur können dagegen wirken. Und Bernward Dörner, der nicht nur Forscher am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin ist, sondern auch Geschichtslehrer, fordert eine neue Ethik des öffentlichen Redens über andere Menschen:

    "Das heißt, dass jeder über die Folgen seines Informationsverhaltens nachdenkt. Weil bestimmte Meldungen, auch an den Staat, gesellschaftliche Institutionen, sind ja notwendig. Stichwort: Ein Kind wird vernachlässigt. Es gibt ja Anzeigen, die gerade ethisch geboten sind. Andere Anzeigen dagegen sind gesellschaftlich höchst problematisch und für das Individuum eventuell vernichtend geradezu. Und insofern müssen wir eine Ethik des Umgangs mit unserem Informationsverhalten entwickeln. Und das ist schwierig, aber unumgänglich."