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Für ein digitales Verfallsdatum

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die den Vorzügen des Mediums Internet mit seiner Bereitstellung von Millionen von Informationen eklatante Nachteile gegenüberstellen. Eine dieser Stimmen ist die des Österreichers Victor Mayer-Schönberger, der die Unmöglichkeit des Vergessens im Netz thematisiert.

Von Heidi Schumacher | 11.04.2011
    "Delete" (engl. für: tilgen, löschen, annullieren) bezeichnet im Titel des Buches dasjenige, was für den Internet-Theoretiker Victor Mayer-Schönberger das Gegenteil von dem ist, was tagtäglich mit unseren Datenspuren im Netz geschieht: sie werden nicht gelöscht, sondern gesammelt, gespeichert, aufgehoben und für immer aufbewahrt. Die digitale Informationswelt hat das Vergessen vergessen.

    Einerseits ist die neue Technik entlastend, denn das Netz mit seiner ungeheuren Informationsfülle kann uns viele Gedächtnisleistungen abnehmen. Ein Rechner für ein Gehirn, könnte man mit Marshall McLuhan sagen, der die Medien als Ausdehnung der menschlichen Physiologie ansah. Andererseits führt die technische Entwicklung mit ihrer riesigen und inzwischen billig zu erwerbenden Speicherkapazität dazu, dass wir ein weltweit vernetztes, externes Gedächtnis entwickeln, das aber, im Gegensatz zum menschlichen nicht vergessen kann:

    Google merkt sich alle Suchanfragen, obwohl jeden Tag mehr als zwei Milliarden davon gestellt werden. Google vergisst nicht; sein Gedächtnis für unsere Suchanfragen ist langlebig und genau.

    Für die Gehirnforschung ist das menschliche Gedächtnis ein lebendiges, sich entwickelndes Konstrukt. Es bewahrt gespeicherte Informationen nicht unverändert auf. Erinnerungen verblassen, Vergangenes wird mit der Zeit gefiltert, anders bewertet oder auch vollständig eliminiert.

    Digitale Speichermedien hingegen halten Informationen so fest, wie sie eingegeben wurden, ohne Berücksichtigung ihres Entstehungskontextes.

    Welche Folgen hat diese Entwicklung? Kann jemand zum Beispiel wollen, dass seine Spuren im Netz dekontextualisiert in Stein gemeißelt und – der Möglichkeit nach – für fremde Nutzer unbegrenzt lange nachvollziehbar sind?

    Für den Einzelnen jedenfalls kann das fatale Folgen haben. So zitiert der Autor das Beispiel der amerikanischen Studentin Stacey Snyder, der ihre Universitätsverwaltung aufgrund eines privaten Fotos, das sie bei MySpace eingestellt hatte, wegen unwürdigen Verhaltens die Lehrbefugnis verweigerte. Das lustig gemeinte Foto, für Freunde bestimmt, zeigte sie mit einem Karnevalshütchen und einem Becher in der Hand, in dem mutmaßlich Alkohol war. Stacey hätte das Foto gerne gelöscht, aber inzwischen war es durch Suchmaschinen erfasst und von Webcrawlern archiviert.

    Ein anderes Beispiel: Ein Aufsatz, in dem ein kanadischer Wissenschaftler über seine LSD-Erfahrung in den 60er-Jahren berichtete, hatte zur Folge, dass er nicht mehr in die USA einreisen durfte. Ein Beamter der Einreisebehörde hatte beim Googeln den Aufsatz entdeckt und dem Wissenschaftler zur Last gelegt, dass er nicht von sich aus seine Drogenerfahrung vor 40 Jahren angegeben hatte. Für die Behörde Grund genug, ihm lebenslänglich die Einreise in die USA zu verweigern.
    Fotos, die früher allenfalls im privaten Umfeld kursierten oder Aufsätze, an die man nur nach umständlicher Recherche gelangte, sind nun mit ein paar Mausklicks zu erreichen und weltweit abrufbar. Das rasche Wiederaufspüren des Gespeicherten im globalen Gedächtnis Internet ermöglicht sekundenschnell das Erstellen privater Dossiers, damit die Auslieferung Einzelner an soziale und staatliche Kontrolle.

    Dies könnte über die Beschädigung von Individuen hinaus auch soziokulturelle Folgen haben: Das digitale Zeitalter ist eines der perfekten Erinnerung. Vergessen hingegen, so Mayer-Schönberger, ist ein exzellenter, evolutionär bewährter Mechanismus zur Gewichtung von Informationen und die Grundlage für Neubeginn und Wandel. Analoge Medien wie das Buch, die Fotografie oder der Film haben zwar immer auch Archivierungen vorgenommen; sie boten aber weder die leichten Zugriffs- noch die unbegrenzten Aufbewahrungsmöglichkeiten des Internets. Wegen dieser Eigenschaften, so der Autor, ist zu befürchten, dass zukünftig nur noch das als wahr gilt, was die Form digitaler Daten annimmt:

    Auf diese Weise wird das digitale Gedächtnis zur wichtigsten Quelle für die Rekonstruktion der Vergangenheit: leicht zu nutzen und umfangreich, außerdem scheinbar genauer und objektiver als das fehlbare, löchrige menschliche Gedächtnis.

    Das Konservieren personenbezogener Daten kann auch zur Gefährdung großer Gruppen von Menschen führen. Mayer-Schönberger warnt vor der Idee, dass man auf alle Zeiten davon ausgehen könne, in einem Rechtstaat zu leben:

    Das digitale Erinnern einzuschränken, schützt uns auch vor einer Zukunft, in der unsere eigene Gesellschaft in Versuchung gerät, die Informationsschätze zur Identifizierung, Diskriminierung und Bedrängung all jener zu nutzen, die nicht mit dem Wertekanon der Mehrheit übereinstimmen.

    Neben dem möglichen staatlichen ist das kommerzielle Interesse an unserer Netzexistenz vorherrschend: Ganze Branchen haben sich etabliert, die nur auf den Verkauf von E-Mail-Adressen und anderen personenbezogenen Daten spekulieren und das Netz nach ihnen absuchen. Wer ist nicht verärgert, wenn er bei seinem Netzbesuch durch Warenwerbung daran erinnert wird, dass er vor Stunden oder Tagen nach bestimmten Artikeln gestöbert hat und Filterprogramme seine Suchbewegungen für die Bewerbung ähnlicher Produkte weiter gegeben haben.

    Da bisherige Strategien wie individuelle Internetabstinenz, Selbstzensur, Datenschutzregelungen oder Informationsrechtsmanagement nicht wirklich fruchten, schlägt der Autor im Hinblick auf die Dauer der gesammelten Daten als Therapie ein Verfallsdatum vor. Ein Suchmaschinenbetreiber wie Google hat zwar seit 2008 ein Löschen personenbezogener Informationen nach neun Monaten eingerichtet, aber Mayer-Schönberger geht das nicht weit genug: Er möchte ein Bewusstsein für die Wiedereinführung des Vergessens schaffen, und deswegen alle unsere Datenspuren mit Verfallsdaten versehen. Die Nutzer des Internets sollen dabei selbst entscheiden, wie lange ihre Aktivitäten nachvollziehbar sind.

    Ob sich sein Vorschlag in die Praxis umsetzen lässt und ob Nutzer tatsächlich vor der Archivierung ihrer Daten geschützt sind, wenn diese Daten mit einem Verfallsdatum ausgestattet sind, sei dahin gestellt. In jedem Fall sind sie aber besser geschützt.

    Und: "Delete" liefert eine kritische Sicht auf Entwicklungen, an deren Anfang wir gerade erst stehen.

    Viktor Mayer-Schönberger: "Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten". Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Kamhuis. Berlin University Press (2010), 19,90 Euro.