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Für eine Rehabilitierung des Fetischismus

Von den christlichen Bildmagien des Mittelalters bis hin zu den heutigen fetischistischen Praktiken in Mode, Werbung, Sport und Popkultur reicht Hartmut Böhmes Abhandlung zum Fetischismus. Er behandelt in "Fetischismus und Kultur" ausführlich Religion, Magie, Idolatrie, Sexualität und Konsum.

Von Klaus Englert | 23.08.2006
    Theodor W. Adorno und Max Horkheimer veröffentlichten vor sechs Jahrzehnten in ihrem kalifornischen Exil die "Dialektik der Aufklärung", einer der berühmtesten Traktate moderner Theoriebildung. In dem Essay enthüllten sie die Abgründe der Aufklärung, ihre unauslöschliche Verbindung mit dem Mythischen. Die Entzauberung der Welt, so die These der Exilphilosophen, sei durch Aufklärung nicht zu erreichen, da auf ihrem Grund allerlei Animistisches und Irrationales fortdauere. Adorno und Horkheimer beschrieben mit diesen Worten, wie sich in der amerikanischen Kulturindustrie ökonomische Kalkulation und menschliche Bedürfnisse aufs Wundersamste verbinden.

    Aus dieser Erkenntnis wird der melancholische Zug verständlich, der die "Dialektik der Aufklärung" durchzieht. Der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme teilt diesen Abgesang auf die kapitalistische Kulturindustrie keineswegs. Zwar zeigt auch er in seinem Buch "Fetischismus und Kultur", daß in der Moderne Aufklärung und Mythos, Rationalität und Irrationalität untrennbar miteinander verquickt sind. Doch darin sieht er gerade eine Bereicherung des "Projekts Aufklärung". Hartmut Böhme möchte keineswegs den Fetisch in die Schmuddelecke unseres aufgeklärten Zeitalters verbannen. Das sei ja auch illusorisch. Denn als Kulturwissenschaftler müsse er anerkennen, daß heutzutage ökonomische Prozesse vermehrt auf Fetischisierungen zurückgreifen:

    "Wir kaufen nicht Waren nur unter dem Aspekt ihres Gebrauchswertes, sondern aufgrund ihrer Aura, ihrer Ausstrahlung, ihrer libidinösen Besetzbarkeit. Wir kaufen Waren auch, um durch ihren Besitz zu partizipieren an Attitüden (...), die Attraktion ausstrahlen, seien das Kleidungsstücke, Autos oder auch, daß wir Eintrittskarten kaufen, um an Gemeinschaftsereignissen kultischer Art teilzunehmen, was Popkonzerte oder Fußballspiele sind. Oder wir geben sehr viel Geld aus (....), um uns in Besitz eines Fußballtrikots oder einer Unterschrift von einem Star zu bringen, um (...) an der Aura die-ses Stars teilzuhaben. (...)

    All das spielt zusammen und beflügelt die Ökonomie, ja man kann geradezu sagen, daß Starbildung und Fetischismus zu Motoren der Ökonomie heutzutage geworden sind. So daß nicht nur das politische System, insofern es sich religiöser Mechanismen bedient, sondern auch das ökonomische System nicht ohne fetischistische Verhaltensmuster der Konsumenten oder Staatsbürger überhaupt nicht mehr auskommt."

    "Fetisch", portugiesisch feitiço, bezeichnet alle Arten von Magie und Zauber, die im Zeitalter der Aufklärung als abergläubisch und irrational verfemt wurden. Erst das ausgehende 19. Jahrhundert widmete sich dem Fetischismus mit wissenschaftlicher Akribie. Böhme meint, daß zwischen Karl Marx‘ "Kapital" von 1867 und Richard Krafft-Ebings "Psychopathia sexualis" von 1886 ein geheimer Zusammenhang bestünde: Beide Autoren messen dem Fetischismus eine gesellschaftliche Bedeutung zu.

    Marx deutet den Fetisch als Geheimnis des Warentauschs, der verdinglichten Produktwelt, und für Krafft-Ebing ist der Fetischismus das Paradigma aller Perversionen. Er verlangt, der Sexualwissenschaftler müsse sich ihm mit allem Eifer widmen, um die Normalität sexuellen Verhaltens zu schützen. Böhme zufolge war Sigmund Freud der erste, der die Perspektive auf den Fetisch grundlegend veränderte:

    "Michel Foucault hat die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts das goldene Jahrzehnt der Sexualwissenschaften genannt. In der Zeit war der Fetischismus dabei, zur Zentralperversion aller sexuellen Abweichungen zu werden. Und man kann sehen, daß der Weg des Fetischismus in die Sexualwissenschaft und in die Psychoanalyse hinein zunächst so gelaufen ist, daß darin etwas Krankhaftes, Absonderliches und Perverses gesehen wurde. (...) Das ist die eine Seite, also die Pathologisierung des Fetischismus.

    Die andere ist, daß Freud in einer Nebenbemerkung sagt, daß die Hälfte der Menschheit sowieso fetischistisch sei, nämlich die Frauen. (...) Auch Freud hat also gesehen, daß der Feti-schismus ein ganz normales Phänomen sein kann. Und auf diesem Weg sind wir eigentlich heute, nämlich zu sehen, daß der Fetischismus in (...) intensiver Weise unsere Dingbeziehungen und unsere Personenbeziehungen reguliert und antreibt und unsere wesentlichen affektiven Energien bündelt."

    Hartmut Böhmes Buch ist eine anspruchsvolle systematische und historische Abhandlung zum Fetischismus – von den christlichen Bildmagien des Mittelalters, über die ökonomischen Theorien des Warenfetischs im 19. Jahrhundert bis hin zu den heutigen fetischistischen Praktiken in Mode, Werbung, Sport und Popkultur. Böhme behandelt ausführlich Religion, Magie, Idolatrie, Sexualität und Konsum. Denn in ihnen ereignen sich "Ding-Mensch-Fusionen", die unweigerlich die Selbstreflexion und den Souveränität-sanspuch des modernen Subjekts einschränken. Und damit zwangsläufig den schönen Traum der Aufklärung – den Traum von einer Welt ohne Zauber und Aberglauben – zunichte machen. Hartmut Böhme plädiert für eine "Rehabilitierung des Fetischismus". Damit versteht er den Fetischismus als das Andere, nicht aber als die Nachtseite der Aufklärung:

    "Dazu kann man sagen, daß das 19. Jahrhundert die große Entdeckungsgeschichte war, wo einerseits im Marxismus, zum anderen in der Sexualwissenschaft und dann um 1900 in der Psychoanalyse der Fetischismus gewissermaßen im Herzen Europas selbst angesiedelt ist. Und daß die Herausverlagerung von fetischistischen Verhaltensformen in außereuropäische Kulturen eine Art Projektionsmechanismus war, wo man das, was man selber tat auf andere übertrug. (...) Im Sinne (...) von Jean Paul, der davon sprach, ‚Afrika in uns zu entdecken‘ (...), ist der Fetischismus aus der Moderne nicht mehr herauszubringen.

    Im Gegenteil kann man sagen, daß (...) die fetischistischen Praktiken sogar enorm zugenommen haben im Laufe des 20. Jahrhunderts – im Politischen, im Konsumistischen und vor allem natürlich in der Popkultur, aber auch im Sport, so daß wir heute von einer Universalisierung des Fetischismus sprechen können."

    Hartmut Böhme stellt sich gegen eine dogmatische Aufklärung, gegen einen einseitigen Modernisierungsprozeß, der uns die Entzauberung der Welt verspricht. Dagegen setzt er sich für eine moderne Kultur ein, die fetischistische ebenso wie religiöse Praktiken duldet und entwickelt. In seinem Buch nennt er dies eine "unverzichtbare Ressource an ästhetischer Kreativität und erotischer Lust" (S. 30). Böhme scheint einer umfassenden und dauernden Verzauberung unserer Lebenswelten nachzutrauern, die wir heute allenfalls in Sexualität, Kunst und Religion empfinden:

    "Das ist ja auch vielleicht eine der großen Fehleinschätzungen der Aufklärung, daß sie glaubte, daß man durch Aufklärung der Gesellschaft ein postreligiöses Zeitalter einleiten könnte. Das ist der Glaube gewesen, (...) ohne Glauben leben zu können. Wir sehen heute, daß es postreligiöse Gesellschaften gar nicht gibt. (...) Das ist nicht das Entscheidende, dass eine Gesellschaft westlichen Zuschnitts nicht mehr eine sakralkulturelle Gesellschaft ist, wo die Trennung von Religion und Staat nicht mehr funktioniert. (...) Sondern viel interessanter in westlichen Gesellschaften ist, daß die religiösen Energien gewissermaßen durch alle Systemebenen der Gesellschaften hindurchwabern. (...)

    Sie verteilen sich eher als Energieform und als Kollektive und persönliche Verhaltensorientierung auch in solchen Gestalten, die man gar nicht als religiös versteht. (...) Die Idee, daß man eine Globalisierung auf aufgeklärter Grundlage ohne Religion zu schaffen in der Lage wäre, ist eine große Täuschung gewesen. Wir werden jetzt eingeholt von der Wucht religiöser Energien, die das Politische geradezu überwuchern heutzutage."