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Für einen Aufbruch ist es nie zu spät

Eine alte alleinstehende verwitwete Frau mit dem Namen Emily ist die Hauptfigur in Stewart O‘Nans neuem Roman. Emily hatte er bereits in seinem 2002 erschienenen Roman "Abschied von Chautauqua" eingeführt. Emily kämpft mit sich selbst und ringt mit Veränderungen.

Von Johannes Kaiser | 03.07.2012
    "Ihr Leben ist eher konturenlos. Sie lebt im Haus mit sich allein, hört ihrem Radio zu, liest in ihrem Buch, löst ihre Kreuzworträtsel. Sie lässt den Hund raus und läuft mit ihm. Es ist ein ganz ruhiges Leben, überhaupt nicht dramatisch, sollte man denken, und als ich meinem Agenten erzählte, dass ich ein Buch über eine achtzigjährige Frau und ihren Hund schreiben wollte, sagte er: Wunderbar, die Filmindustrie wird begeistert sein."

    Der 51-jährige Stewart O‘Nan lacht, als er diese Geschichte über seinen neuen Roman "Emily, allein" erzählt und auf den ersten Blick ist es tatsächlich kein Stoff, der einen vom Hocker reißt. Man muss schon O‘Nan sein, um diesem, in der Literatur weitgehend gemiedenem Thema faszinierende Facetten abgewinnen zu können.

    Die Geschichte der 80ig-jährigen verwitweten Emily beginnt eher verhalten, schildert ihren Alltag in einem großen Einfamilienhaus in einem ruhigen Vorort von Pittsburgh, und der ist eben alles andere als aufregend. Doch die Ruhe täuscht. Emily hat noch lange nicht mit dem Leben abgeschlossen. Dazu gibt es noch allzu viele Dinge, die ihr noch auf der Seele liegen. So hadert sie zum Beispiel mit ihren Erinnerungen an ihren verstorbenen Ehemann Henry:

    "Obwohl sie Henry immer stark geliebt und als guten Menschen angesehen hat, kommen doch nur Erinnerungen an die Schwierigkeiten hoch, an die Zeiten, in denen sie nicht miteinander klarkamen, an die Dinge, bei denen sie nicht übereingestimmt haben. Das ist typisch für Emilys Persönlichkeit. Sie hat immer versucht, Konflikte und Probleme herunterzuspielen und sich dann Sorgen gemacht. Sie ist jemand, der sich ständig Sorgen macht. So sehr sie sich an die Dinge erinnern möchte, die perfekt und wunderbar und schön waren, so wie Erinnerungen auch sein können, so neigt sie doch dazu, sich auf das zu fokussieren, was nicht funktioniert hat."

    Emilys Familie ist allerdings auch kein gelungenes Beispiel für eine heile Welt. Wer den 2002 erschienenen Vorgängerroman "Abschied von Chautauqua" kennt, der während eines letzten Sommerurlaubs der Familie im bereits verkauften Ferienhaus spielt, der weiß, wie viele Konflikte es zwischen Emily, ihrer Tochter Margret und ihrem Sohn Kenneth gibt. Jetzt, acht Jahre später, hat sich an dieser Ausgangssituation wenig geändert.

    "Margret, die Schwierige, ist jetzt in den 50ern. Sie war den größten Teil ihres Erwachsenenlebens Alkoholikerin, sie hat Kinder großgezogen, ist geschieden, hat ständig Geldprobleme. Emily und sie sind nie miteinander ausgekommen. Emily hat immer das Gefühl gehabt, dass Margret sie nicht respektiert, und umgekehrt. Sie fühlt sich gegenüber Margret schuldig und das endet damit, dass sie Margret statt Liebe und Respekt Geld zukommen lässt. Kenneth ist ein ruhiger, schüchterner Junge. Er wird von seiner Frau Lisa ein bisschen dominiert. Er hat mal versucht, Kunstfotograf zu werden, ist aber gescheitert, arbeitet jetzt in der Radiowerbung. Er hat niemals wirklich Erfolg gehabt, obwohl er immer angestrengt versucht hat, es allen recht zu machen. Für Emily ist er lieb, aber schwach, während Margret stark ist, aber unkontrollierbar. Und sie sieht sich selbst in Margret. Sie sieht deren Ärger, deren Problem der Selbstbeherrschung. Sie entdeckt in ihr das Schlimmste von sich selbst, während sie in Kenneth ihren Ehemann Henry wiedererkennt. Sie sieht also, wie sich ihre Beziehung mit Henry in ihren Kindern wiederholt und das macht ihr Angst."

    Emily steht sich selbst im Wege. Das zeigt uns Stewart O’Nan überdeutlich beim Weihnachtsfest, herbeigesehnt und zugleich gefürchtet:

    "Das ist die sentimentale Zeit des Jahres, wenn die Familie zusammenzukommen ist. Für Emily ist jedes Familientreffen ein Betrug an Gefühlen und für Weihnachten gilt das ganz besonders. Wochen vor Weihnachten sagen alle: Oh, Weihnachten steht bevor, es muss was ganz Besonderes werden, es muss perfekt sein und wunderbar, und Emily hat diese Erwartungen, wenn die Familie eintrifft und sie zusammenkommen, selbst gegenüber Margret, mit der es immer schwierig wird. Es gibt also diese Vorfreude und zugleich diese Furcht vor Weihnachten und beides wird zur Wirklichkeit, wenn die Familie tatsächlich ankommt. Für Emily, die alleine lebt - es ist überwältigend, den Rest der Familie in ihrem Haus zu haben. So ist sie die ganze Zeit zugleich aufgeregt und ängstlich, während sie sie doch eigentlich genießen sollte."

    Emilys Unfähigkeit, sich vorbehaltlos zu freuen, ist nur die Hälfte der Geschichte. Stewart O’Nan lässt es nicht dabei. Er zeigt, dass auch das Alter lernfähig ist. Hält sich Emily anfangs an ihren kleinen täglichen Ritualen fest, scheut vor jeder Veränderung zurück, wird nervös, geht nicht alles seinen gewohnten Gang, so muss sie schon bald umlernen. Ihre Schwägerin Anette, zu der sie ein ziemlich gespaltenes Verhältnis hat, die ist ihr viel zu offenherzig, stürzt bei einem gemeinsamen Mittagessen so schwer, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Nun hatte sich Emily bislang auf Arlene und deren Auto verlassen, um Museen zu besuchen, im Golfclub zu dinieren, Bekannte zu treffen. Jetzt steht sie vor der Entscheidung, ans Haus gekettet zu sein oder sich wieder hinters Steuer zu setzen. Das Auto ihres Mannes steht seit dessen Tod unberührt in der Garage. Emily hat sich in dem großen Familienwagen unwohl gefühlt. Sie überlegt lange, bis sie schließlich einen Kompromiss findet. Sie kauft sich einen Kleinwagen und damit ändert sich ihr gesamtes Leben:

    "Das Auto als Symbol für ihre Verbindung zur Außenwelt hat riesige Bedeutung und auch ganz praktische. Sie kommt jetzt damit herum. Bevor sie es hatte, hatte sie akzeptiert, dass sie sozusagen ihrem Haus eingeschlossen war, und mit dem Auto sucht sie jetzt Orte auf, an denen sie nie zuvor gewesen ist. Das bedeutet eine Erneuerung des Lebens, eine Erweiterung, ein Suchen, sich wieder für Dinge zu interessieren und außerdem gibt sie Geld aus. Sie ist sehr, sehr geizig und die Tatsache, dass sie Geld für dieses Auto ausgibt, signalisiert, dass sie mit ihren alten Mustern bricht."

    Da es in den USA allerorten an öffentlichen Verkehrsmitteln mangelt, ist das Auto für Emily tatsächlich ein Symbol wiedergewonnener Freiheit. Und auch neuer geistiger Beweglichkeit. Emily beginnt, sich mit ihrem bisherigen Leben auseinanderzusetzen. Das ist nicht ganz einfach.

    "Nun zum Ende ihres Lebens begreift sie, dass sie sich eine engere Beziehung mit Margret wünscht und gerne diese Beziehung ändern würde, aber sie weiß nicht, wie sie das machen soll. Manchmal ändern sich die Dinge eben nicht. Das ist hart. Sie muss ihre Beziehung zu Margret so akzeptieren und auch ihre Beziehung zu ihren Eltern. Sie streitet immer noch mit ihnen, obwohl sie nun schon seit 30 Jahren tot sind. Selbst gegen Ende des Buches, als sie die Grabstätte ihrer Eltern besucht, ist sie sich ihrer Beziehung zu ihnen unsicher und kann sie erst jetzt allmählich akzeptieren. Genau drum geht es im Buch. Ihr Leben zu akzeptieren, die Menschen, die sie enttäuscht hat, die Beziehungen, die schwierig und mühsam gewesen sind. Das gilt im Prinzip für alle Beziehungen. Welche Beziehung ist schon ideal? Sie hat mit ihren Eltern in einer Kleinstadt gelebt und niemals gedacht, zurückzukehren, weil sie diese rückwärtsgewandte, ganz schreckliche Stadt gehasst hat und jetzt kehrt sie zurück und sucht mit ihren Eltern Frieden zu machen und findet die Stadt plötzlich doch gar nicht so schlecht und empfindet sogar eine Art von Liebe für sie. Ich denke, das gilt für alle ihre Beziehungen. Sie hält alle Beziehungen für schwierig und dornig, aber wenn sie sich auf sie einlässt, begreift sie, dass es auch Liebe gibt."

    Emily hat Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu zeigen. Sie gibt sich nüchtern-rational, wirkt deswegen kühl und wenig mitfühlend, ist anderen gegenüber streng. Und hier bringt Stewart O‘Nan ihren Hund ins Spiel:

    "Die Wichtigkeit von Rufus für Emilys Leben kann gar nicht genug betont werden. Er ist ihr Begleiter. Er ist derjenige, der sie nie kritisiert. Er ist die vorbehaltlose Liebe, die anderen Menschen zu geben sie bisweilen Mühe hat, aber er kriegt sie. Sie sorgt sich sehr um ihn und das sagt eine Menge über Emily aus. Ich wünschte mir, sie würde sich um alle anderen genauso viel Sorgen machen und ich denke, am Ende des Buches tut sie das auch."

    Es ist erstaunlich und spricht für Stewart O’Nans Schreibkunst, dass es ihm gelingt, uns trotz des Fehlens dramatischer Ereignisse für Emilys häusliches ruhiges Leben zu interessieren, auch wenn wir noch keine 80 sind. Und das liegt daran, dass uns Emilys Gemütsverfassung nicht fremd ist. Jeder kämpft mit seinen Erinnerungen, versucht mit Fehlschlägen klarzukommen, hat Mühe, seine Niederlagen zu akzeptieren. Emilys Kampf mit sich selbst ist uns vertraut. Stewart O‘Nan zeigt an Emily, wie kleine, eigentlich unscheinbare Veränderungen große Auswirkungen haben können:

    "Es gibt riesige, gigantische Veränderungen, aber sie finden untergründig statt, im Verborgenen, im Stillen. Emily setzt sich mit den wirklich großen Dingen auseinander, mit Zeit und Tod und der Vergangenheit und der Liebe, mit einem ganzen Leben."

    Stewart O’Nan ist ein einfühlsames Porträt einer alten Frau gelungen. Und ganz nebenbei die hoffnungsfrohe Botschaft: Für einen Aufbruch ist es nie zu spät.

    Stewart O'Nan: "Emily, allein", aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel, Rowohlt Verlag