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Fukushima und die Normalität

Japan hat die Konsequenzen aus dem Fukushima-Desaster gezogen: den schrittweisen Ausstieg aus der Kernkraft. Bis 2040 sollen alle Reaktoren des Landes vom Netz gehen. Rund um die vier havarierten Reaktoren fürchten sich die Bewohner weiterhin vor der Strahlenbelastung und der Anlage selbst.

Von Peter Kujath | 29.09.2012
    "Ob sich meine Entscheidung später als richtig herausstellen wird, weiß ich nicht. Vielleicht können meine Enkel oder Urenkel das beurteilen, aber ich kann jetzt nur mein Bestes geben. Ich will niemanden zwingen, nach Kawauchi zurückzukommen. Aber ich glaube, jeder braucht einen speziellen Ort, seine Heimat. Ich bin hier in Kawauchi geboren und aufgewachsen. Ich finde es deshalb wichtig, alles zu tun, damit die Menschen zurückkommen können."

    Yuko Endo ist der Bürgermeister von Kawauchi, einem Ort oder besser Landkreis 20 bis 30 Kilometer südwestlich des havarierten AKWs Fukushima 1. Damals am 16. März 2011 ordnete er die Evakuierung der rund 3500 Bewohner an. Denn die radioaktive Belastung in Kawauchi war auf bis zu 10 Mikro-Sievert pro Stunde angestiegen.

    "Am 31. Januar hatte ich angekündigt, dass ich gemeinsam mit einem Teil der Verwaltung hierher zurückkommen werde."

    Und am 1. April, als die Zentralregierung die Sperrzone lockerte, setzte Endo sein Vorhaben in die Tat um. Gefolgt sind dem Bürgermeister bisher einige Hundert Einwohner.

    "Wir sind im April zurückgekommen. Wir wollten unseren Laden wieder aufmachen. Dafür mussten wir natürlich alles in Ordnung bringen. Am 24. Juli konnten wir wieder öffnen."

    Tamae Aoyama ist 62 Jahre alt und gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Kawauchi zurückgekehrt. Seit Jahrzehnten betreibt sie hier einen Ramen- einen Nudelladen.

    "Natürlich wussten wir nicht, ob die Kunden auch zurückkommen werden. Zum Glück haben wir jetzt mehr Besucher als früher. Denn die Menschen, die hier bei den Aufbauarbeiten oder der Dekontaminierung helfen, kommen zu uns zum Essen."

    Die Tatami-Matten, Tische und Stühle sind neu. Bezahlt hat Tamae Aoyama das selbst. Von dem Betreiber des havarierten AKWs, von Tepco, hat sie noch nichts bekommen, aber sie hat aus Angst auch noch keinen Antrag gestellt.

    "So ist das, wir haben einfach sehr große seelische Belastungen erlebt. Deshalb fühle ich mich nicht stark genug für eine Auseinandersetzung. Tepco soll einfach die Entschädigungen auszahlen und nicht diskutiert, dass dieses oder jenes nicht geht."

    Angst vor der Strahlung hat Aoyama nicht. Sie sei schon zu alt, aber:

    "Wenn wir spazieren gehen, dann nehmen wir die Geigerzähler mit, die wir von der Gemeinde bekommen haben. Und wenn wir dann außerhalb des Ortes sind, wo wir noch nicht waren, sehen wir, wie hoch die Strahlung ist."

    An den verschiedenen Messstellen im Landkreis Kawauchi ist abzulesen, wie hoch die Belastung in der Luft ist. Mit Werten zwischen 0,2 und 0,5 Mikrosievert pro Stunde ist sie geringer als im 50 Kilometer entfernten Koriyama, wo viele der ehemaligen Bewohner jetzt leben. Das gilt zumindest für die Bereiche, die bereits dekontaminiert wurden.

    "Um den Sorgen der Menschen entgegen zu wirken, legen wir sehr großen Wert auf die Dekontaminierung. 100 Prozent der öffentlichen Anlagen wurden bereits gereinigt. 60 Prozent der privaten Häuser und der dazugehörenden Felder haben wir ebenfalls dekontaminiert. Bis zum Ende des Jahres werden wir 100 Prozent erreichen."

    In den umliegenden Wäldern sieht es anders aus. Darüber ist sich Bürgermeister Yuko Endo im Klaren. Deshalb kam er auf die Idee, jedem Heimkehrer einen Geigerzähler auszuhändigen. Und um Ängsten bezüglich der internen Strahlungsbelastung zu begegnen, hat er an 11 Stellen im Landkreis Geräte aufgestellt, mit denen Lebensmittel überprüft werden können.

    Gestern kamen vier, heute bisher drei Anfragen. Mikaku Hanawa ist im Juni nach Kawauchi zurückgekommen und arbeitet jetzt für die Gemeinde.

    "Bisher gab es keine Fälle mit nennenswerten Belastungen. Nur wenn Pilze aus dem Wald vorbeigebracht werden, liegen die Zahlen über dem Grenzwert, erzählt Frau Hanawa. Das Gerät steht in einem kleinen Laden neben dem Rathaus. Zuerst wurde hier nur vor Ort angebautes Gemüse verkauft. Dann kamen immer mehr Wünsche, ob wir nicht auch zum Beispiel Soja-Sauce hätten. Und jetzt fragen wir nach, bevor wir in Koriyama einkaufen gehen."

    Einen anderen Laden gibt es in Kawauchi nicht. Strom, Gas, Wasser und auch die Müllabfuhr funktionieren hingegen.

    "Für die Menschen ist die Frage des Arbeitsplatzes natürlich entscheidend. Nur wer eine Arbeit hat, wird auch zurückkommen. Wir haben es geschafft, drei Firmen zur Gründung eines kleinen Betriebs hier zu bewegen. Das ist schon entschieden, und die Bauarbeiten laufen gerade an. Solche Dinge machen mir Mut."

    Dreiviertel der Investitionen übernimmt der Staat, der auch die Kosten für die Dekontaminierung trägt. Noch ist Kawauchi ein geteilter Ort. In einige der Häuser in der Nähe des Gemeindezentrums wie dem Ramen-Laden ist das Leben zurückgekehrt, andere stehen verwaist in der Landschaft. Ein kleiner Bereich im Osten ist noch nicht wieder freigegeben. Hier dürfen die Bewohner wegen der Strahlenbelastung nur tagsüber zu ihren Häusern, und die Dekontaminierung wird von der Zentralregierung durchgeführt. Nicht weit entfernt befindet sich auch eine der vier vorübergehenden Deponien für den radioaktiven Müll.

    "Derzeit lagern hier 40 Tausend Tonnen. Ausgelegt ist die Anlage für 60 Tausend Tonnen."

    Kyoji Nishiyama ist in der Verwaltung von Kawauchi für die Dekontaminierung zuständig. Versteckt im Wald umgeben von Hügeln liegt die 3,5 Hektar große Deponie. Auf zwei speziellen Filzschichten lagern die blauen, jeweils eine Tonne schweren Plastiksäcke, in denen Blätter, Äste, Erde oder der Schlamm von den Dekontaminierungsarbeiten stecken. Eine grüne Plane darüber soll sie vor Sonneneinstrahlung schützen. Mehr an Sicherung gibt es nicht. Denn die Anlage ist nur eine Übergangslösung.

    "Die Zentralregierung hat versprochen, dass es nur für drei Jahre ist. Nach drei Jahren soll alles in die Nähe des AKWs nach Hamadori gebracht werden."

    Ob das wirklich geschieht, bleibt abzuwarten. Der Bürgermeister von Kawauchi, Yuko Endo, weiß, dass viele der ehemaligen Bewohner nicht nur Angst vor der Strahlenbelastung, sondern auch vor der havarierten Anlage selbst haben.

    "Eineinhalb Jahre sind seit dem schweren Atomunfall vergangen. Aber jedem ist klar, dass die Anlage noch große Risiken birgt, dass eben längst nicht alles vorbei ist. Wir liegen hier keine 30 Kilometer entfernt. Das ist natürlich eine Hypothek und verstärkt die Sorgen der Menschen, ob sie wirklich hierher zurückkehren können."