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Funktionäre mit brauner Vergangenheit

Mit 84 Prozent war der Anteil an NSDAP-Mitgliedern im ersten Präsidium des Bundes der Vertriebenen im Vergleich zu anderen Organisationen der frühen Bundesrepublik "überdurchschnittlich hoch", sagt Michael Schwartz. Der Historiker hat in einer Studie den Umgang des BdV mit der NS-Vergangenheit in den 50er- und 60er-Jahren untersucht.

Michael Schwartz im Gespräch mit Bettina Klein | 21.11.2012
    Bettina Klein: Das Institut für Zeitgeschichte veröffentlicht heute eine Studie über die Nazi-Verstrickungen beim Bund der Vertriebenen. Die Studie war vom BdV schließlich selbst initiiert und vom Bundesinnenministerium mit 100.000 Euro gefördert worden, und das, nachdem das Magazin "Der Spiegel" vor einigen Jahren über eine weit überdurchschnittliche Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder bei den Vertriebenen berichtet hatte. Autor dieser Studie ist der Historiker Professor Michael Schwartz, den ich jetzt in Berlin am Telefon begrüße. Guten Morgen!

    Michael Schwartz: Guten Morgen!

    Klein: Vielleicht mal vorab, Herr Schwartz: ein wichtiges Stück der Aufarbeitung von Nachkriegsgeschichte ganz sicher. Weshalb eigentlich erst jetzt?

    Schwartz: Nun ja, wir leben in einer Situation, in der allgemein, glaube ich, die NS-Verstrickungen, wie man etwas beschönigend immer sagt, also letzten Endes die NS-Belastungen in der frühen bundesrepublikanischen Gesellschaft erneut zum Thema werden. Wir haben ja vor einiger Zeit eine große Studie über das Amt, also das Auswärtige Amt der frühen Bundesrepublik, und die NS-Belastungen seines Personals erlebt und vor kurzem erst eine große Bundestagsdebatte über die Notwendigkeit weiterer Aufarbeitungen, etwa im Bereich anderer Ressorts der Reichs- und späteren Bundesregierung gehabt. Also ich denke, es taktet sich hier ein in ein größeres Interesse an einer erneuten Untersuchung dieser NS-Vergangenheit unserer frühen Demokratie.

    Klein: Was ist die Kernerkenntnis Ihrer Studie mit Blick auf den Bund der Vertriebenen?

    Schwartz: Nun gut, wir haben das erste Führungsgremium, das sogenannte Präsidium des Bundes der Vertriebenen, von 1958 untersucht, das aus 13 Personen bestand, und wir haben nicht nur nach formalen Kriterien zur Belastung wie etwa einer NSDAP-Mitgliedschaft gefragt, die ja noch relativ leicht zu überprüfen ist, sondern eben auch uns alle individuellen Lebensläufe dieser 13 Personen so gut es möglich war durch das Dickicht und manchmal auch die Lücken der Aktenüberlieferung angeschaut. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass zunächst einmal vom formalen Kriterium einer Mitgliedschaft in der NSDAP oder anderer NS-Organisationen über 60 Prozent, also acht von 13 Personen, Mitglieder der NSDAP gewesen sind, dass drei weitere, die nicht Mitglieder waren, auch dem NS-Regime in unterschiedlicher Weise sehr nahe standen und als dessen Unterstützer zu betrachten sind, sodass wir letzten Endes eine Quote von 84 Prozent bekommen, die hier eine NS-Belastung aufzuweisen hätte.

    Klein: Und das ist ganz klar überdurchschnittlich im Vergleich zu anderen Organisationen in der Zeit?

    Schwartz: Nach meinem Eindruck ist das so. Wir haben natürlich noch viele Lücken bei der Betrachtung anderer Organisationen, aber man kann natürlich darauf verweisen, was auch der BdV selbst in seiner Presseerklärung getan hat, dass beispielsweise in der DDR-Regierungspartei SED 25, nach neueren Erkenntnissen, die uns vorliegen, sind es sogar 27 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder gewesen seien. Man kann darauf verweisen, dass es gerade im Bereich von Juristen und Ärzten und damit auch in der hohen Ministerialbürokratie der frühen Bundesrepublik hohe Prozentzahlen solcher ehemaligen NSDAP-Mitglieder gab. Aber man muss schon deutlich sehen, dass ein solcher Prozentsatz, der je nach Messung – ich hatte das gerade erläutert – zwischen 62 oder 84 Prozent schwankt, ein sehr überdurchschnittlicher, ein überdurchschnittlich hoher ist.

    Klein: Ja wir sprechen jetzt aber in der Tat über das Führungsgremium aus diesem Jahr und nicht über die Mitglieder des Verbandes selbst.

    Schwartz: Ganz richtig. Also das lässt keine Rückschlüsse auf die politischen Orientierungen der Mitgliedschaft zu, denn dann müsste man genauer untersuchen und genauer betrachten, warum gerade diese Personen in das Führungsgremium hineingewählt oder hineingekommen sind.

    Klein: Welche Erklärung haben Sie für diesen Befund?

    Schwartz: Zum einen ist dieses Führungsgremium nicht basisdemokratisch gewählt worden, sondern das war ein Gremium, das von den Vorgängerorganisationen des BdV, von deren Spitzengremien delegiert worden ist. Also wir haben hier sozusagen basisdemokratische Wahlen im Vertriebenenverband auf der unteren Ebene, aber dann wählen Führungsgremien ein noch höher-, übergeordnetes Führungsgremium. Das ist sicher ein Punkt.

    Der zweite Punkt ist: Wir haben allgemein in der frühen Bundesrepublik noch die Tendenz zur Honoratioren-Demokratie. Das heißt, es werden sozial relativ angesehene Personen aus einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld gewählt, die häufig auch die Funktionseliten-Ausbildung eines akademisch gebildeten Juristen hatten. Genau diese Gruppe der Juristen überwiegt auch sehr, sehr stark in diesem BdV-Führungsgremium, und wir wissen eben, dass solche Gruppen wie Juristen sehr viel höher NS-belastet gewesen sind als etwa die Gesamtbevölkerung.

    Klein: Wie aussagekräftig ist das jetzt, da Sie ja davon sprachen, dass Sie praktisch jetzt nur sich ein Jahr angeschaut haben?

    Schwartz: Nun, wir haben das erste Führungsgremium, also die Gründungsführung des BdV, zum Maßstab genommen, würden aber sozusagen in einem Kapitel unseres Buches durchaus etwas intensiver nachgeschaut haben. Wir betrachten dann nicht nur das Jahr 1958, was haben die dann gemacht, sondern schauen auf die gesamten 50er- und 60er-Jahre und fragen, wie ist diese Führung und wie sind einige weitere Personen im BdV mit der NS-Vergangenheit öffentlich und nicht öffentlich umgegangen, was lässt sich da feststellen.

    Klein: Was lässt sich da feststellen?

    Schwartz: Da lässt sich unterschiedliches feststellen. Es gibt durchaus eine mehr oder weniger offene - manchmal wird die NS-Vergangenheit nicht sehr offen, sondern eher verklausuliert angesprochen – Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, wie sie etwa schon die Charta der Heimatvertriebenen von 1950 ja auch beinhaltete, eine Auseinandersetzung, die wir heute wohl nicht als ausreichend empfinden würden, die aber in Ansätzen da war. Es gibt einige öffentliche Äußerungen zur NS-Vergangenheit von einzelnen Personen, die später dann dem BdV-Präsidium angehörten, die in gewissen Grenzen eine Kritik zumindest der NS-Gewaltverbrechen erkennen lassen. Es gibt aber auch Konflikte wie den Skandal um den ersten BdV-Präsidenten und Vertriebenenminister Hans Krüger, wo der BdV in seinen öffentlichen Stellungnahmen, was die NS-Kritik angeht, eher versagt. Und es gibt auch nicht öffentliche Konflikte, die Fragen aufwerfen, ob im gesamten Führungsgremium der späten 50er- und frühen 60er-Jahre tatsächlich eine angemessene Haltung gegenüber dieser Vergangenheit schon da gewesen ist.

    Klein: Herr Schwartz, gibt es Ihrer Meinung nach Konsequenzen, die der BdV jetzt heute ziehen muss im Lichte dieser Erkenntnisse?

    Schwartz: Es gibt ja keine direkten personellen Konsequenzen, die heute gezogen werden müssten. Diese Personen, die wir untersucht haben, sind alle verstorben. Selbst der jüngste, der erst im Jahre 2002 gestorben ist und dem BdV und seiner Führung lange angehört hat, wäre also heute direkt nicht mehr betroffen. Es gibt aber natürlich Konsequenzen einer kritischen, wenn Sie so wollen, aus Organisationsperspektive auch selbstkritischen Auseinandersetzung des BdV, seiner Führung und seiner Mitglieder, mit dieser Vergangenheit. Man muss sich dem genauso stellen, wie die gesamte deutsche Gesellschaft sich der NS-Vergangenheit zu stellen hat. Immerhin war ja die Tatsache, dass Frau Steinbach diese Studie, durch medialen Druck sicher mit veranlasst, dann endlich angeschoben hat, auch ein Zeichen dafür, dass sich hier etwas zu ändern begonnen hat. Ob diese Veränderungen schon hinreichend sind, das wird ja die aktuelle Diskussion zeigen.

    Klein: Der Historiker Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte. Er ist Autor einer Studie über die Nazi-Vergangenheit bei Funktionären im Bund der Vertriebenen, die heute veröffentlicht wird. Herr Schwartz, herzlichen Dank für das Gespräch.

    Schwartz: Sehr gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.