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Furcht als heimliches Vergnügen

Friedrich Sieburg war ein Feuilletonist von bemerkenswertem Format. Scharfzüngig beschäftigte sich der Autor in den Essays aus den fünfziger Jahren, die jetzt im Eichborn Verlag erschienen, mit den Befindlichkeiten der Bürger im Nachkriegsdeutschland.

Von Miachel Schmitt | 03.08.2010
    Der junge Mann, der im Märchen der Brüder Grimm auszieht, um das Fürchten zu lernen, hätte in der Nachkriegszeit nach Deutschland kommen sollen, erklärt der Kritiker und Journalist Friedrich Sieburg 1954; das hätte ihm mehr Eindruck gemacht als ein bisschen Kegeln mit Totenköpfen. Denn, so Sieburg, "wir leben im Dauerzustand der Katastrophe, und wenn wir uns auch vor der dunklen Wolke fürchten, die über uns hängt, so ist die Furcht doch auch mit einem heimlichen Vergnügen vermischt. Die Weltuntergangsstimmung durch scharfsinnige Analysen ins allgemeine Bewusstsein zu heben und sie gleichzeitig doch auch zu genießen, gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen des Menschen von heute." Alle möchten daher Propheten sein, und der Beifall sei umso größer, je gelassener die düstere Botschaft vorgebracht werde.

    Diese Diagnose könnte man heute immer noch stellen, nur die Zahl der Foren für die Botschaft ist größer geworden - und ob man sie differenziert oder einfach nur auf die je aktuellste Bedrohung der Menschheit bezieht, ändert allenfalls den Zungenschlag. "Die Lust am Untergang" heißt das Buch, in dem Friedrich Sieburg diese Geisteshaltung analysiert und als spezifisch deutsche Befindlichkeit erläutert. Als Folge des Zusammenbruchs des Dritten Reiches, dessen psychische Folgen die Deutschen seiner Meinung nach überfordern, als Konsequenz aus der atomaren Bedrohung, vor allem jedoch als weit zurückreichende Disposition, die aus seelischem Tiefgang und einem nagenden Gefühl nationaler Unzulänglichkeit entsprungen sei.

    Thomas Mann hat 1919 in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" ähnlich argumentiert. Vergleichbare Thesen hört man auch heute noch, aber nur selten ist darüber so geschliffen, so amüsant, so süffisant und so selbstquälerisch geschrieben worden. Denn Friedrich Sieburg war ein Feuilletonist von bemerkenswertem Format – und zwar im Guten wie im Schlechten. Man kann sich an seinen Sätzen besoffen lesen, obwohl man hinter viele ein dickes Fragezeichen setzen möchte. Man kann sich leicht seinem ironisch gebrochenen Weltschmerz überlassen – aber man sollte sich auch in Erinnerung rufen, warum er heute kaum noch geschätzt wird.

    1893 geboren, studiert er unter anderem bei Max Weber und Friedrich Gundolf. Schreibt mit 16 erste Gedichte, versucht sich in den frühen Zwanzigern als Schriftsteller und als Journalist. Macht als Korrespondent der liberalen "Frankfurter Zeitung" Karriere, schreibt seine interessantesten Bücher über Frankreich, das er liebt, und seine problematischsten über Deutschland, von dessen Schwächen er nicht lassen kann. Er dient sich den Nationalsozialisten an – und wird doch von niemandem für einen in der Wolle gefärbten Nazi gehalten. Dazu ist er zu gebildet und zu klug – und also ist er für die einen ein unsicherer Kantonist und für die anderen ein Problem: Carl Zuckmayer hat ihn in seinem "Geheimreport" als einen "höchst komplizierten und fast tragischen Fall" bezeichnet, als einen vom Ehrgeiz getriebenen, der gegen seine Überzeugungen als Promotor in den Dienst des Dritten Reiches getreten sei. Die Franzosen belegen ihn nach 1945 mit einem Publikationsverbot, ehe er wieder für die Zeitschrift "Die Gegenwart" und schließlich als Leiter des Literaturressorts bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" tätig werden kann – und als einflussreicher Mann allerlei offizielle Ehrungen erhält.

    "Die Lust am Untergang" ist 1954 zweierlei: eine Zusammenschau bundesrepublikanischer Gegenwart und eine historische Herleitung deutschen Wesens. Befeuert wird beides von einem ausgeprägten Bewusstsein, dass der geistige und künstlerische Mensch das Leid der Existenz viel intensiver empfindet als der Mensch der Masse. Die wirklichen Intellektuellen aber gebe es in der Gegenwart der Nachkriegszeit kaum noch, vielmehr habe parallel zum wirtschaftlichen Erstarken in Westdeutschland der Typus des Kulturschaffenden den Intellektuellen alten Schlages verdrängt.
    Die Dauerrede vom Untergang gedeihe zudem so außerordentlich gut, weil in Deutschland die gesellschaftliche Verfasstheit immer nur vorläufig gewesen sei – und nun, im geteilten Land, wieder nur vorläufig sein könne.

    Liest man das heute, kommt einem vieles sehr bekannt vor, denn es ist seither noch oft und meist schlechter formuliert wiederholt worden. Und auch Sieburg hat seinerzeit natürlich schon eine Reihe gut abgehangener Plattitüden verdichtet, deren analytische Kraft mit den Jahrzehnten nicht zugenommen haben. Er verfügt durchaus über einen scharfen Blick, wenn er etwa in der Entwicklung des modernen Staates einen Trend hin zum Wohlfahrtsstaat als entmündigendem Polizeistaat ausmacht – da führt ein Weg zu Jürgen Habermas genauso wie zu Botho Strauß. Aber er ist eben auch ein Herr alter Schule, der bejammert, wie Demokratisierung einen Verlust an Verfeinerung mit sich bringt. Er suggeriert oft mehr als er argumentiert – und seine Pointen unterstützen das. Und das wird umso deutlicher, je mehr er sich von der Untersuchung der Geschichte ab- und der Analyse einzelner Aspekte seiner bundesdeutschen Gegenwart zuwendet: dem Kunst- und Kulturbetrieb, den gewandelten Sitten und dem Abhandenkommen einer traditionellen Oberschicht. Und seinem Hass auf die Gruppe 47. Dabei ist er niemals antiliberal – ganz im Gegenteil –, er selbst ist schließlich auch ein Verfechter des literarischen Wortes als einer Form der Zeitkritik. Was ihn stört und was ihn beispielsweise von der Gruppe 47 trennt, ist deren Verhaftung an die Kleinlichkeiten und an die Sprache der Gegenwart, die mit seinem Hang zu den überväterlichen Klassikern kollidiert.

    Sieburgs Dilemma ist das bekannte Dilemma des deutschen Konservatismus – und Günter Grass und viele andere haben das schon in den 60er-Jahren konstatiert: der Mangel an einer reflektierten Theorie der Gesellschaft, die der konservativen Analyse eine andere als bloß geschmäcklerische und zuweilen rein ästhetisch anmutende Qualität verleihen könnte. Helmut Schelsky, auch kein Freund der Linken, analysiert zur gleichen Zeit immerhin mit Begriffen wie "skeptische Generation" und "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" und in den USA entwickelt 1955 David Riesmann in "Die einsame Masse" ein sehr klar strukturiertes Bild der modernen Gesellschaft der Individuen. Sieburg erreicht nie eine vergleichbare Klarheit. Er sieht durchaus, dass die "formierte Gesellschaft", wie das ein paar Jahre lang auch genannt wird, voranschreitet – aber er setzt nichts dagegen außer grimmiger Subjektivität nebst wohldosiertem Spott und geschliffenen Worten.


    Friedrich Sieburg: Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene. Mit einem Vorwort und einem Nachwort von Thea Dorn. Die andere Bibliothek im Eichborn Verlag. Herausgegeben von Klaus Harpprecht und Michael Naumann. Frankfurt am Main, Mai 2010, 420 Seiten.