Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Furcht vor schleichendem Rechtsruck

Fünf Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September: Droht Amerika, sich allmählich in ein autoritäres Staatswesen zu verwandeln? Kritiker meinen Ja und werfen dem Kongress vor, tatenlos zusehe, wie George W. Bush die Demokratie immer weiter schwäche. Dem Weißen Haus gegenüber kritisch eingestellte Politiker werden von Regierungsmitgliedern als Helfer von El Kaida diffamiert.

Von Michael Kleff | 04.09.2006
    Noch vor dem fünften Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 kam Anfang August Oliver Stones Film "World Trade Center" in die amerikanischen Kinos. Unter anderem mit Nicolas Cage in einer der Hauptrollen, wird die wahre Geschichte zweier Polizisten erzählt, die als letzte lebend aus den Trümmern der eingestürzten Türme geborgen worden waren. Auch im US-Fernsehen sind seit Wochen unzählige Dokumentationen und Mini-Serien zu sehen, mit denen an die Schrecken dieser Ereignisse erinnert wird. Kritische Beiträge zu den politischen Reaktionen der Regierung - also etwa die Invasion des Irak und der so genannte "Krieg gegen den Terror" - sind dabei allerdings die Ausnahme.

    Ginge es nach dem Rock-Sänger Neil Young, der kurz nach dem 11. September 2001 noch selbst ins Horn der Kriegstreiber gestoßen hatte, müsste George Bush längst seines Amtes enthoben werden. "Let's Impeach The President" fordert er auf seinem aktuellen Album "Living With War". Unter dem Motto "Vote-For-Change-Tour" hatte im Herbst 2004 schon Bruce Springsteen gemeinsam mit allem was Rang und Namen in der US-Rockmusik hat, zum Sturm auf das Weiße Haus und den dort versammelten "inneren Zirkel der Macht" aufgerufen. Ohne Erfolg. - Trotz heftiger Kritik an seiner Amtsführung und am Krieg im Irak konnte George Bush im Januar des vergangenen Jahres zu seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident antreten - im Rahmen einer pompösen Feier, bei der sowohl Gegen-Demonstranten als auch Unterstützer seiner Politik ihre Ansichten lautstark vorbrachten.

    "I am Pat Roan. I´m from Dallas, Texas. I love Bush. I love his family and I love America ... ”

    "I, George Walker Bush, do solemnly swear that I will faithfully execute the office of President of the United States...”

    "My name is Charles Homer. I´m from Brandywine Maryland, and I´m here to protest the inauguration of the war President, George Bush...”"

    "We are at war!" - Dieser Satz prägt in den USA seit den Terroranschlägen vor fünf Jahren die politische Diskussion. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!" - so laute das Motto der US-Administration in Washington, meint der Journalist Steve Rendall, Mitarbeiter der in New York ansässigen Medienbeobachter von "Fairness & Accuracy In Reporting", abgekürzt: "FAIR". Seine Frau Natacha hatte als Augenzeugin miterlebt, als das zweite Flugzeug in das World Trade Center hineinflog. Er selbst verlor zwei Freunde bei dem Anschlag:

    ""Das Vermächtnis des 11. September besteht für die Amerikaner in Terrorwarnungen, Verlautbarungen und lauten Erfolgsmeldungen über verhaftete Terroristen, bei denen sich später dann herausstellt, dass sie gar keine waren. Wir leben in einem Land, in dem die Regierung Angst verbreitet."

    Der nach den Anschlägen verkündete so genannte "Patriot Act" ermöglicht den Behörden unter anderem den Zugang zu den Ausleihdaten öffentlicher Bibliotheken. Oder: Wer sich zum Beispiel in der aktuellen Diskussion für eine liberale Einwanderungspolitik einsetzt, gilt dem offiziellen Washington rasch als Sympathisant von Terroristen. Dem Weißen Haus kritisch eingestellte Politiker werden sogar von Regierungsmitgliedern als Helfer von Al-Quaida diffamiert.

    Dennoch zeige sich "Average Joe", also der sprichwörtliche Nachbar von nebenan, im Alltag davon kaum berührt, hat "New York Times"-Redakteur Peter Applebome beobachtet:

    "Für die meisten Amerikaner ist der 11. September eine Erinnerung, die langsam verblasst. Solange du nicht direkt davon betroffen bist, vielleicht einen Menschen verloren hast, hat es kaum direkten Einfluss auf dein Leben. Auch wenn man natürlich im Hinterkopf behält, dass da etwas passiert ist. Und viele Leute glauben, es kann und es wird wieder passieren. "

    Als herauskam, dass George W. Bush sich nach dem 11. September über ein Gesetz hinweggesetzt und einer Lauschbehörde erlaubt hatte, internationale Telefongespräche abzuhören, kamen Umfragen zu dem Ergebnis, dass bei den Bürgern deshalb nur ein diffuses Unbehagen aufgetaucht sei. Wenn es um die Sicherheit der USA gehe, seien gezielte Abhöraktionen auch ohne richterliche Genehmigung gerechtfertigt, meinten sogar weit über 60 Prozent der Befragten.

    Angesichts eines schier unerschütterlichen Vertrauens der Menschen in Staat und Regierung schrieb der französische Publizist und Politiker Alexis de Tocqueville schon vor über 150 Jahren in seinem Klassiker "Über die Demokratie in Amerika":

    ""Eine Nation, die von ihrer Regierung nichts anderes erwartet als die Aufrechterhaltung der Ordnung, hat das Sklavendasein bereits verinnerlicht. Sie macht sich selbst zum Sklaven ihres Wohlbefindens, der nichts anderes erwartet als die Hand, die schon alles richten wird. In einer solchen Herrschaft ist der Despotismus des Faktischen nicht weniger zu fürchten als der Despotismus eines einzelnen."

    Folgt man dem kanadischen Autoritarismus-Forscher Bob Altemeyer hat sich an dieser unkritischen Einstellung eines Großteils der US-Bürger kaum etwas geändert. Im Gegenteil, ist John Dean überzeugt.

    Dean war Rechtsberater des republikanischen US-Präsidenten Richard Nixon und gehörte jenem Personenkreis an, der zunächst an der Vertuschung des so genannten Watergate-Skandals beteiligt war, der Nixon 1974 am Ende das Amt kosten sollte. Dean hatte schon zuvor die Seiten gewechselt und wurde zum Hauptbelastungszeugen in dieser Affäre, bei der ein vom Weißen Haus angeordneter Einbruch in das Hauptquartier der Demokraten aufgedeckt worden war.

    Der seit langem als Buchautor, Fernsehkolumnist und Publizist bekannte Dean gilt immer noch als einer der besten Kenner der Washingtoner Polit-Szene. Eindringlich warnt Dean seine Mitbürger vor den Gefahren einer blinden Gefolgschaft, die sich für ihn so präsentiert:

    "Ihre Autoritätsfiguren, so glauben sie, können nichts falsch machen. Sie hinterfragen nichts. Sie verhalten sich wie Lemminge. Leider ist die Zahl dieser Menschen seit dem 11. September enorm gestiegen. Die Republikaner und Bush haben das erkannt - die Verbreitung von Angst und Furcht zeigt Wirkung. Das wird auch bei den anstehenden Kongress-Wahlen im November eine Rolle spielen. - Ich möchte die Menschen erreichen, bevor sie blindlings eine autoritär inspirierte Position einnehmen und sagen: 'Ich will Sicherheit. Ich fürchte mich zu sehr. Daher ist es mir egal, ob ich abgehört werde oder die Nationale Sicherheitsbehörde meine e-mails liest.' - So bekommt man keine wirklichen Erkenntnisse über den Terrorismus. Das aber ist genau das, was die Bush-Leute wollen: Dass wir die nicht bekommen."

    Für den ehemaligen demokratischen Senator Gary Hart, haben die derzeitigen politischen Vorgänge in seinem Land déjà-vu-Charakter:

    "Wir erleben eine Wiederholung dessen, was zur Zeit des Vietnamkriegs passierte. Die Nixon-Administration hat mit illegalen Maßnahmen amerikanische Bürger überwacht und ihnen unpatriotisches Verhalten vorgeworfen. Die Unterstützung des Krieges wurde als Rechtfertigung für die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte und Freiheiten missbraucht. Was derzeit passiert, ist eine Wiederholung der Geschichte."

    Als Schuldige gelten vor allem die Medien. - Richtig ist aber auch: Die meisten von ihnen haben sich inzwischen von dem demonstrativen "Hurra-Patriotismus" verabschiedet, mit dem sie anfangs den vom Präsidenten proklamierten Kampf gegen den Terror und den Krieg im Irak begleitet und orchestriert hatten. Die "New York Times" entschuldigte sich sogar dafür, dass sie sich in ihrer Berichterstattung zu sehr auf Regierungsquellen gestützt habe. Allerdings war diese "Entschuldigung" auf den hinteren Seiten versteckt.

    Hinzu kommt, dass für mehr als zwei Drittel der Amerikaner weder die "New York Times" noch die "Washington Post" als Nachrichtenquellen wichtig sind. Sie informieren sich aus dem Fernsehen. Und dort verbreiten bis heute der konservative Sender "Fox News" sowie rechte Talkradio-Shows wider besseres Wissen etwa, dass Saddam Hussein etwas mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu tun gehabt habe.

    Im vergangenen April las Stephen Colbert, der Moderator der populären politischen TV-Comedy-Show "The Colbert Report" seinen Journalisten-Kollegen satirisch die Leviten. Beim traditionellen Abendessen der Journalistenvereinigung der "White House"-Korrespondenten sagte er in Gegenwart von George W. Bush:

    "Ich bin begeistert, hier mit dem Präsidenten zu sein, zugleich aber auch entsetzt darüber, von so vielen liberalen Medienvertretern umgeben zu sein, die Amerika zerstören. - Bis auf 'Fox News': Dort bekommt man immer beide Seiten einer Geschichte zu hören - die von Präsident Bush und die des Vizepräsidenten.

    Lasst uns die Regeln durchgehen; so funktioniert es: Der Präsident fällt Entscheidungen. Er ist der Entscheider. Sein Pressesprecher verkündet sie -, und ihr Journalisten schreibt sie auf. Macht noch eine Rechtschreibprüfung und geht nach Hause. Kümmert Euch um Eure Familie. Schlaft mit Eurer Frau. Macht Euch an den Roman, den ihr schon immer schreiben wolltet. Über den furchtlosen Journalisten in Washington, der den Mut hat, der Regierung die Stirn zu bieten... Ein Roman, versteht sich, eine Fiktion...!"

    Übrigens: Dass die US-Massenmedien in ihrer anschließenden Berichterstattung den Auftritt von Colbert unterschlugen, das muss wohl nicht sonderlich betont werden.

    "Wir leben in gefährlichen Zeiten
    Lasst uns alle einer Meinung sein
    Wir sollten keine Fragen stellen
    Wir schwenken einfach nur die Fahne
    Und singen "God Bless America"
    Wir stellen den Patriotismus derjenigen in Frage
    Die sich der Hysterie nicht anschließen
    Während die Terroristen unter uns sind
    Haben wir keine Zeit
    Den Inhalt von Gesetzestexten zu lesen
    Der Kongress beschließt sie ohnehin."

    Chuck Brodskys Kommentar zur Lage im Land. - Viele dieser von ihm angesprochenen Gesetze bedeuten Steuergeschenke für die Reichen und Abbau von Sozialleistungen für die Mehrheit der Gesellschaft.

    Der Bürgerrechtler und ehemalige demokratische Senator Reverend Jesse Jackson beklagt die zunehmende Armut in den USA. Anfang des Jahres, auf einer Konferenz afro-amerikanischer Wirtschaftsvertreter, Politiker, Kirchenvertreter, Gewerkschafts- und Bürgerrechtsaktivisten in New York, sprach er Klartext:

    "'Hurrican Katrina' ist eine Metapher für Armut. Unglücke in Bergwerken, heruntergekommene Stadtviertel, verlassene Landstriche. Das alles ist Armut. Sie ist das Ergebnis von Gesetzen, die medizinische Versorgung und Stipendien kürzen, gleichzeitig die Steuern für die Reichen senken und acht Milliarden Dollar monatlich für den Krieg im Irak bereit stellen: Armut ist das Ergebnis einer törichten Ausgabenpolitik und falscher Prioritäten."

    Dirk Wittenborn ist - nicht zuletzt Dank seines Buches "Unter Wilden" - ein auch in Deutschland erfolgreicher Schriftsteller. Nach den Terroranschlägen vor fünf Jahren, die er - nur wenige Straßenzüge vom World Trade Center entfernt - miterlebte, zog er mit seiner deutschen Frau und der am 13. September 2001 geborenen Tochter aus dem New Yorker Stadtteil Manhattan nach Brooklyn. Wittenborn kritisiert die Bush-Regierung für ihre Einschüchterungspolitik, die sogar unter Intellektuellen Wirkung gezeigt habe:

    "Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal erlebe. Wenn ich mit Filmemachern oder Autoren rede, stelle ich eine gewisse Vorsicht fest bei dem, was sie sagen. Denn: Man könnte doch Schwierigkeiten mit dem Unternehmen bekommen, dass deine Arbeit finanziert. Das macht mir Sorgen. Die Menschen sind sehr konservativ geworden. Das Beunruhigende ist, dass man dies auch im sonst so liberalen New York zunehmend feststellt.

    Noch ein Beispiel: Nach dem 11. September sind viele unglaublich reich geworden. Ölfirmen etwa: Ein Bekannter aus College-Zeiten hielt bei einer Konferenz von Ölproduzenten eine Rede. Er bekam tosenden Beifall, als er forderte: Jeder, der jetzt nicht 35 Prozent Gewinn mache, müsse gefeuert werden. - Niemand redet so richtig darüber, dass "Halliburton" und "Exxon", dass all diese Unternehmen ein Vermögen an dieser Paranoia verdienen."

    "New York Times"-Redakteur Peter Applebome erinnert daran, das schon Präsident Eisenhower in den fünfziger Jahren vor dem militärisch-industriellen Komplex gewarnt hatte.

    Den Republikanern, so Applebome weiter, sei es vor allem abseits der großen Metropolen, im Süden und im Mittleren Westen des Landes gelungen, die Menschen von derlei Zusammenhängen abzulenken:

    "Dort gibt es große Wählerschichten, die ein Problem bei der Abtreibungsfrage sehen und auf dem Schulgebet bestehen. Die Republikaner konzentrieren sich auf Menschen, die sich solchen Werten verpflichtet fühlen. Anstatt danach zu fragen, ob es nicht auch ein Wert sei, wenn jedes Kind auf eine anständige Schule gehen kann, oder dass es eine Altersversorgung und eine Krankenversicherung gibt. Das alles ist natürlich wichtig. Aber die Werte-Debatte haben die Republikaner erfolgreich unter ihrer Kontrolle."

    Das Debakel im Irak, die ohnmächtigen und kopflosen Reaktionen von Behörden und Politikern, den Opfern von Hurrican "Katrina" zu helfen, nicht zuletzt das Umfrage-Tief, in dem die Regierung derzeit steckt - selbst diese Negativliste ändert daran offenbar nichts.

    Fünf Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September: Droht Amerika, sich allmählich in ein autoritäres Staatswesen zu verwandeln, vielleicht sogar mit Zügen eines "sanften Faschismus"?

    Dass die USA gegen solche Gefahren keineswegs gefeit sind, lässt sich übrigens historisch nachweisen: So schrieb schon in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Schriftsteller Sinclair Lewis unter dem Titel: "Das ist bei uns nicht möglich" eine Horrorgeschichte über ein Amerika, das aus Naivität und Furcht rechten Despoten in die Hände fällt.

    Und gerade einmal zwei Jahre ist es her, seit der Roman "Verschwörung gegen Amerika" erschienen ist, aus der Feder von Philip Roth. Dort beschreibt er unter anderem, wie in den USA noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs der Faschismus hof- und salonfähig wird. Beide - Lewis und Roth - sind übrigens weltweit anerkannt unverdächtig, plumpe Agitprop-Literatur verfasst zu haben.

    Aus dieser Tradition heraus erhebt nun auch der frühere Präsidentenberater John Dean den Vorwurf, dass sogar der US-Kongress tatenlos zusehe, wie die Katastrophe des 11. September 2001 von Präsident Bush und dessen Vizepräsidenten Cheney in einer Weise ausgenutzt würde, die der Demokratie im Land nachhaltig schaden könnte. Deans Befürchtung:

    "Ich bin besorgt, weil ein proto-faschistisches Verhalten zu erkennen ist, ein Verhalten mit faschistischen Grundmustern. - Sind wir deswegen also auf dem Weg in den Faschismus? - Nein. Aber wir sind davon nicht weit entfernt. - Menschen, die davon etwas verstehen, sagen, dass der Faschismus bei uns mit einem lächelnden Antlitz auftritt und uns dazu bewegt, dort freiwillig Rechte aufzugeben, wo wir vielleicht einmal sagen werden: 'Hätten wir das doch nie getan!'"