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Furioser Sprachakt

"Die Regenprozession und andere Prosa" heißt der vor Kurzem erschienene und vorerst letzte Band der deutschsprachigen Florjan-Lipus-Werkausgabe. Die Titelnovelle, von Johann Strutz ins Deutsche übersetzt, vereint auf knapp 200 Seiten noch einmal das, wofür der Erzähler Lipus steht: auf der einen Seite der dörfliche Kosmos, bloßgestellt in allen Facetten, auf der anderen Seite die Rücksichtslosigkeit der Mächte, von denen diese Menschen beherrscht werden und sich beherrschen lassen.

Von Martin Sander | 24.04.2008
    Florjan Lipus ist ein herausragender europäischer Schriftsteller. Zugleich gehört Lipus als Kärntner Slowene einer Minderheit an, die durch politische Repression und Assimilationsdruck im Laufe der Zeit zu einer kleinen Gruppe von nur noch 15.000 Menschen zusammengeschmolzen ist. 1937, als Lipus in einem Karawankendorf bei Zelezna Kapla - auf Deutsch: Eisenkappel - zur Welt kam, verzeichnete die Statistik immerhin noch weit über 40.000 Kärntner Slowenen. Auch damals war ihre Lage - unter dem Anpassungsdruck eines deutsch-österreichischen Nationalismus - alles andere als rosig. "Macht mir dieses Land deutsch", lautete der Befehl Adolf Hitlers an die Kärntner. Nach dem "Anschluss" Österreichs wurden alle Rechte der slowenischen Minderheit abgeschafft. Doch Hitlers Staat grenzte an Jugoslawien. Das brachte viele Slowenen im Süden Kärntens in Verbindung mit Titos Partisanen. Die versprachen ihnen nationale Freiheit in einem künftig jugoslawischen Staat.

    Im Alter von sechs Jahren erlebte Florjan Lipus, wie man seine Mutter wegen angeblicher Unterstützung der jugoslawischen Partisanen verhaftete. Die Mutter wurde ins Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt und dort ermordet. Der Vater musste wie viele Kärntner Slowenen in der Wehrmacht dienen. Es sind diese Erfahrungen, die Lipus später immer wieder literarisch verarbeitet hat. Von beispielloser Eindringlichkeit sind dabei jene späten Erinnerungsbilder vom Verlust der Mutter, die der Autor in seinem 2003 erschienenen und 2005 in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman "Bostjans Flug" geprägt hat.

    "... im Allerfernsten, im Unbekannten war sie gelandet, sie, die nur kurz auf den Gendarmerieposten in den Markt hinunter musste. Aus einem so geringfügigen Anlaß in nächster Nähe erwuchs ein so großer und so weit entfernter. Wie ein Licht aus der Finsternis war es aufgeflammt, plötzlich, unvorhersehbar, leibhaftig hatte es ihn getroffen, ein Schwarm von Eisenkugeln zerstob knatternd im Unsichtbaren. Ähnlich hatte es ihm die Kehle zugeschnürt, als es ihn damals im Stübchen der Großmutter überkam, und er wusste es, wusste, dass gerade jetzt, während er auf der Straße dahingeht, die Mutter ins Gas geschickt wird, unerreichbar in der Ferne, nur für einige Augenblicke Boštjans Bewußtsein angenähert, wie wenn ein Schönwetter die Nebelschwaden auseinandertreibt, die Räume erhellt, die Umstände an den Tag bringt, für kurze Zeit dem Blinden und dem Schwerhörigen den Schleier lüftet, blitzartig alles klarmacht, das ganze Elend der Mutter aufzeigt, morgens, beim Waschen, in der großen niedrigen Halle mit den Düsen an der Decke."

    Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte Florjan Lipus ein kirchliches Gymnasium und studierte von 1958 bis 1962 katholische Theologie an der Universität Klagenfurt. Das Priesterseminar gab er jedoch auf, wandte sich stattdessen verschiedenen weltlichen Fächern und Berufen zu, um schließlich - von 1966 bis zu seiner Pensionierung 1999 - als Lehrer an verschiedenen zweisprachigen Kärntner Volksschulen zu arbeiten.

    Seit den 60er Jahren macht Lipus als Erzähler in der slowenischen Mundart Kärntens von sich reden. Dabei fühlt er sich vom Leben seiner Landsleute zwar nachgerade magisch angezogen. Mit der Volkstümelei von Heimatliteratur hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil: Durch seine ironische, oft sarkastische Distanz zu den Lebensformen, die er beschreibt, ist Lipus zu literarischer Bedeutung gelangt.

    Den Durchbruch erlebte Lipus 1980. Damals - so erzählt man sich - sei der ebenfalls zweisprachig aufgewachsene Dichter Peter Handke in seine Kärntner Heimat zurückgekehrt und habe auf der Suche nach zeitgenössischer slowenischer Lektüre nach einem Lipus-Buch gegriffen. Es handelte sich um den acht Jahre zuvor erschienenen und bis dahin kaum wahrgenommenen Roman "Der Zögling Tjaz". Dieses Buch, im tiefen Widerspruch zu jeder nationalkulturellen Erbaullichkeit stehend, ist wie viele andere Texte von Lipus durchdrungen vom Protest gegen die repressiven Sozialisationsmustern kirchlicher und anderer Institutionen. Handke begeisterte sich auf Anhieb für den "Zögling Tjaz" und übersetzte das Buch gemeinsam mit Helga Mracnikar ins Deutsche.

    Damit war auch das Interesse des deutschsprachigen Feuilletons geweckt - für einen Autor, der seiner Welt störrisch die Treue hält und sie zugleich in aller Form entlarvt. Immer wieder hat Florjan Lipus seither die Brutalität der Mächtigen beschrieben und die Angst der Ohnmächtigen - so auch in seiner 1987 auf Slowenisch erschienenen Novelle "Regenprozession", in der es um die traumatischen Nachwirkungen einer Hexenverbrennung geht. Vor Generationen wurde die junge Marjeta von ihren Nachbarn verraten und am Ende einer Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

    "Die Bergler, an denen allen noch die Zeit der Untertanen und Freien klebt, haben ein Gefühl für diese Veränderungen entwickelt, für den Wandel und die Wankelhaftigkeit der Wahrheiten, für deren prekären Niedergang. Feinfühlig erkennen sie mit ihren Sensoren im Heutigen noch das Aufflackern der Vorzeit, jedes Feuergeprassel schreckt sie auf: Wer einmal von der Schlange gebissen wurde, der zuckt vor dem aufgerollten Seil zurück, und wer vor dem aufgerollten Seil ausweicht, wird nicht von der Schlange gebissen. Kaum knistert eine Flamme irgendwo in Hörweite, und sei es nur ein Streichholz um die Ecke, schon blicken sie achtsam von der Arbeit auf, die Nasenflügel weiten sich und schnuppern nach Ruß, Rauch und Verschmorten, im Gehör die pulsierenden Feuerzungen, das Knallen und Krachen der Flammen am Widerständigen, das Zerfransen der einzelnen Schichten und das Splittern der Fasern.

    Manchmal, im Zustand der Selbstvergessenheit, ist es den Berglern, als bewegte sich Marjeta mitten unter ihnen, als nähme sie Platz zwischen ihnen, an den Tischen und bei den Gesprächen."

    "Die Regenprozession und andere Prosa", so heißt der vor Kurzem erschienene und vorerst letzte Band der deutschsprachigen Florjan-Lipus-Werkausgabe. Der in Klagenfurt ansässige, der slowenischen Literatur im Besonderen zugeneigte Wieser Verlag hat sie besorgt. Die Titelnovelle, von Johann Strutz ins Deutsche übersetzt, vereint auf knapp 200 Seiten noch einmal das, wofür der Erzähler Lipus steht: auf der einen Seite der dörfliche Kosmos, bloßgestellt in allen Facetten, auf der anderen Seite die Rücksichtslosigkeit der Mächte, von denen diese Menschen beherrscht werden und sich beherrschen lassen. Um das Ende einer langen Dürreperiode zu erbeten, brechen die Dörfler zur Wallfahrt auf. Dabei entkommen sie nicht den langen Schatten jener Vergangenheit, in der sich ihre Vorfahren den Gesetzen der Inquisition gebeugt hatten. Neid, Missgunst und die Lust am Verrat hatte diese dazu gebracht, Marjeta auf den Scheiterhaufen zu bringen.

    Der Erzähler beschwört die grauenhafte Vergangenheit bis ins Detail herauf. Die kalte Allmacht der katholischen Kirche deutet er als Paradebeispiel eines gegen den Menschen gerichteten Totalitarismus, den Schrecken nationalsozialistischer Herrschaft sogar ebenbürtig. Dann führt Lipus das Geschehen zu jener ungeheuren Begebenheit, wie sie zur klassischen Form der Novelle gehört. Auf dem Berg kündigt sich das Gewitter an, doch statt dass der ersehnte Regen die Erlösung bringt, werden vier Dörfler vom Blitz erschlagen.

    "Die Köpfe im Nacken, im Genick vom Körper weggedreht, verzweifelt starrende Gesichter, im Kreis auseinandergeworfen, verrenkte Kiefer, offene schwarze Münder, aus den Bahnen geworfen durch die Gewalt der Entkörperung. Unvollständige, abgebrochene, halbe Falten; Gebärden, kraftlos im Moment des Entkörperns, unwillkürlich Zuflucht nehmend bei den nächsten Gegenständen, die Wanderstäbe weggeworfen für den Weg ohne Wanderstab, unterbrochener Lauf der Zunge, Worte, die im Donner zerquetscht, im Kehlkopf zermalmt, widerspenstiger Schotter, Grieß herausgegurgelten Jammerns, das sich aus dem Mund wälzt und im Nadelboden versickert. Schrammen, gut sichtbar unter der Kleidung, die Narben und Erhebungen auf den Gesichtern geschwärzt, fleckig, verkohlt, der Verlauf der Gesichtsröte unterbrochen, keine Atmung in der Brust, kein Rumoren aus Bauch und Gedärm, in den Händen nichts als Rückzug, in den Beinen nichts als Flucht, Leichenstümpfe, vom Feuer nur angenagt und gekostet, gestreift, unbeendet, Friede und Hölle unter ihnen und in ihnen."

    Es ist ein grausiges Bild, das in jenen Wallfahrern, die von den Naturgewalten verschont bleiben, einmal mehr den Geist der einst als Hexe verbrannten Marjeta wachruft. Florjan Lipus hat auch hier die unbarmherzige Enge seiner Kärntner Heimat, in der er bis heute lebt, in Literatur verwandelt, um sie in einem furiosen Sprachakt zu sprengen. Dass das deutschsprachige Publikum daran teilhaben kann, ist auch dem großen sprachlichen Feingefühl des Übersetzers Johann Strutz zu verdanken.


    Florjan Lipus: Die Regenprozession und andere Prosa
    Aus dem Slowenischen von Johann Strutz
    Wieser Verlag
    237 Seiten, 21 Euro