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Furioses Debüt erst nach 42 Jahren in Deutschland angekommen

Vorsicht! Dieser Roman beginnt mit einem Witz, einem jüdischen Witz der etwas schärferen Sorte. Und der geht so: Im Juni 1942 tritt in Paris ein deutscher Offizier auf einen jungen Mann zu und sagt: "Verzeihen Sie, mein Herr, wo befindet sich der Place de l'Etoile?". Der junge Mann zeigt auf die linke Seite seiner Brust.

Von Jürgen Ritte | 01.08.2010
    Und auf der linken Seite der Brust, der jüdischen Brust des jungen Mannes, findet sich in der Tat der "Place de l'Etoile", der Platz des Sterns, des gelben Judensterns. Genau dort also, wo die deutschen Besatzer ihn im Juni 1942 qua amtlicher Verfügung selbst verortet hatten.

    Mit diesem Wortspiel, in dem der Pariser Triumphbogen und der Triumph der Schande die Plätze tauschen, mit diesem Witz, dessen fürchterliche Pointe in Auschwitz ihren wirklichen Platz hat, setzt Patrick Modianos erster Roman ein. Sein Titel: "La Place de l'Etoile", ganz so, als ob Modiano von Anfang an sein Vorhaben habe deutlich machen wollen, die Dinge auf etwas andere Art zurechtzurücken.

    "La Place de l'Etoile" ist der erste von gut 20 Romanen (und das erste von 30 Büchern), die der französische Autor Patrick Modiano bislang vorgelegt hat. Er erschien 1968, im Jahre des großen Aufruhrs, in dem auch Albert Cohens jüdische Familiensaga "Schöne des Herrn" herauskam - und dem damals gerade erst 23-jährigen jungen Mann, der ob seiner Basketballergröße von 1,92 Meter und seiner stotternden, in Interviews stets nach Worten ringenden Art etwas linkisch wirkte, gelang damit ein furioses Debüt als Schriftsteller.

    In den späteren, rasch aufeinander folgenden Romanen – wie etwa "Abendgesellschaft", "Villa Triste", "Gasse der dunklen Läden", "Dora Bruder" oder "La petite bijou" - blieb Modiano dem einmal gefundenen Thema, dem Leben der Franzosen und besonders der französischen Juden in den "années noires", den dunklen Jahren unter deutscher Besatzung, treu. Fast alles, was er geschrieben hat, ist auch auf Deutsch verfügbar, und die Namen seiner Übersetzer, ob, wie jetzt, für "Place de l'Etoile", Elisabeth Edl, oder früher, etwa für "La petite bijou", Peter Handke, sind so klangvoll wie die Namen seiner deutschen Verleger: Suhrkamp oder Hanser.

    Und so reibt man sich verwundert die Augen, wenn man nun feststellen muss, dass ausgerechnet der Erstling, "La place de l'Etoile", der die Grundierung für alles Weitere liefert, 42 Jahre brauchte, um seinen Weg nach Deutschland zu finden. War der sarkastische jüdische Witz, der den Ton für den ganzen Roman vorgab, einem deutschen Publikum nicht früher zumutbar? Hören wir den Anfang des Romans:

    Es war in jener Zeit, da ich mein venezolanisches Erbe verschleuderte; Manch einer redete nur von meiner strahlenden Jugend und meinen schwarzen Locken, andere gossen Hohn über mich. Ich las ein letztes Mal den Artikel, den mir Léon Rabatête in einer Sondernummer von Ici la France gewidmet hatte: ' ... Wie lange noch müssen wir uns die Spielchen dieses Raphaël Schlemilowitsch bieten lassen? Wie lange noch soll dieser Jude ungestraft seine Neurosen und epileptischen Anfälle überall zur Schau stellen dürfen, von Le Touquet bis Cap d'Antibes, von La Baule bis Aix-les-Bains? Ich frage zum letzten Mal: Wie lange noch sollen Hergelaufene seines Schlags die Söhne Frankreichs beleidigen dürfen? Wie lange noch müssen wir uns ständig die Hände waschen wegen dem jüdischen Gesindel?...'. In der gleichen Zeitung rülpste Doktor Bardamu über mich: '. 'Schlemilowistsch?... Oh! dieser zum Himmel stinkende Schimmelpilz aus dem Ghetto!... Scheißschwächling!... Schlappschwanzvorhaut!... libanesisch-kanakischer Dreckfink!... Rumtata ... Rums! ... Schaut ihn euch an, diesen jiddischen Gigolo ... diesen hemmungslosen Arschficker kleiner Arierinnen!.... ungeheuer negroide Fehlgeburt!... dieser tollwütige Abessinier und junge Nabob!... Zu Hilfe!... schlitzt ihm die Bauch auf ... . Und kastriert ihn!... Erlöst den Doktor von so einem Schauspiel ... . Ans Kreuz mit ihm. Himmelherrgott!... exotischer Hochstapler auf infamen Cocktailpartys ... Judensau internationaler Paläste!.... auf Sexorgien made in Haifa!... Cannes!..... Davos!....Capri und tutti quanti!.... durch und durch verjudete Grandbordells ... . Erlöst uns von diesem beschnittenen Stutzer!... seinen mosesgrünen Maseratis!... seinen See-Genezareth-Jachten!.... seinen Sinai-Krawatten!.... Seine arischen Sklavinnen sollen ihm die Eichel abzwicken!... mit ihren hübschen einheimischen Beißerchen ... ihren niedlichen Händen ... ihm die Augen auskratzen!... los, ran an den Kalifen!... Aufstand im christlichen Harem!... Schnell! Schnell!.... Weigerung, ihm die Eier zu lecken!... ihm schönzutun gegen Dolars!.... Befreit eiuch!.... zeig Mumm, Madelon!... sonst muss der Doktor weinen!;;; sich verzehren!... grausame Ungerechtigkeit!.... Komplott des Sanhedrins!... Man trachtet dem Doktor nach dem Leben!... glaubt mir!... die Kultusgemeinde!.... die Rothschild-Bank!... Schlemilowitsch!... Mädels, unterstützt Bardamu!... Hilfe!....'

    Damit sind Stil und Tonlage von "La Place de l'Etoile" vorgegeben. Hinter den Namen von Léon Rabatête und Doktor Bardamu entdeckt der mit der französischen Literatur der 30er und 40er Jahre auch nur halbwegs vertraute Leser unschwer die Namen der - realen - antisemitischen Pamphletisten Lucien Rebatet und Louis-Ferdinand Céline, die hier von Modiano brillant paradiert werden.

    Letzterer, Céline, gilt als Autor der "Reise ans Ende der Nacht", deren Held ein gewisser Bardamu ist, zwar als einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, aber er ist auch Autor von so antisemitischen Kampfschriften wie "Bagatelles pour un massacre" aus dem Jahre 1936, die bis heute in Frankreich mit Publikationsverbot belegt sind.

    Und auch der Name des "Helden" und Erzählers von "La Place de l'Etoile" ist sprechend: Raphäel Schlemilowitsch. Er ist, wie die Morphologie seines Namens andeutet, ein literarischer Enkelsohn des Peter Schlemihl von Adelbert von Chamisso, des jungen Mannes also, der gleich mehrfach mit dem Teufel in Beziehung tritt und dabei seine Identität, beziehungsweise seinen Schatten verliert. Er ist, wie der jiddische Ursprung des Namens es will, ein Verlierer, ein Versager, ein Pechvogel. Vor so schlechten Auspizien kann ihn eigentlich nur sein Vorname Raphaël, der im Hebräischen so viel meint wie den Gott, der heilt, schützen.

    Und wer nun glaubt, es folge die Geschichte des armen Schlemilowitsch im Kampf mit den braunen Teufeln, der sieht sich rasch enttäuscht, ja sogar zutiefst verunsichert: Schlemilowitsch nämlich betätigt sich als Schwarzmarkthändler, was noch angehen mag, sodann aber als windiger Geschäftemacher mit den Deutschen, als unantastbarer "Kollaborationsjude", ja sogar als skrupelloser internationaler Mädchenhändler, der sich der besonderen Wertschätzung durch Adolf Hitler erfreut und zudem damit prahlen kann, der Geliebte von Eva Braun zu sein. Und noch einiges mehr.

    Kaleidoskopartig – einer von Schlemilowitschs Verwandten ist Hersteller von Kaleidoskopen in New York – montiert Modiano Klischees vom Juden aneinander und zeigt sich dabei gänzlich unbekümmert um chronologische und geografische Kohärenz. Mal befinden wir uns in der Dreyfus-Affäre zu Ende des 19. Jahrhunderts, mal in der von Jean-Paul Sartre dominierten Nachkriegszeit von Saint-Germain-des-Près, mal mitten unter deutscher Besatzung. Ein Satz beginnt in Wien und endet an der Place de la Concorde in Paris. Das ergibt, auf ganzen 160 Seiten, geradezu schwindelerregende Orts- und Zeitwechsel.

    Was sie indes besagen, ist, dass das antisemitische Klischee die Zeiten und Räume überdauert und nicht nur, für Frankreich, auf die Jahre unter deutscher Besatzung beschränkt ist. Auch und gerade da nicht, wo sich die Philosemiten zu Wort melden oder jene, die, wie Jean-Paul Sartre nach 1944, die sogenannte "Judenfrage" als ein reines Problem der Antisemiten aus der öffentlichen Debatte evakuieren: "Jude" wäre in diesem Sinne nur der, der im Blick des Antisemiten dazu gemacht wird. Ansonsten, folgt man Sartre, gibt es keine Juden. Für viele, die, obgleich gänzlich unreligiös und vollkommen assimiliert, in Frankreich zwischen 1942 und 1944 den Judenstern an der "Place de l'Etoile" tragen mussten, mag dies wie eine Befreiung gewirkt haben. Aber diese Art von Befreiung war nur um den Preis jeden Anspruchs auf eine jüdische Identität zu haben. Selbige stand nicht in Sartres Programm – und dementsprechend hart geht Modiano mit ihm in seinem Roman um.

    Aber hören wir noch eine Passage aus der Lebensgeschichte des Raphaël Schlemilowitsch, der, so er nicht gerade im Mädchenhandel tätig ist, auch davon träumt, der größte jüdische Schriftsteller nach Montaigne, Proust und Céline zu werden. Letzterer ist zwar, wie gesehen, kein Jude, aber Schlemilowitsch macht ihn, in konsequenter Anwendung antisemitischer Klischees, dazu: schließlich sei dieser genauso weinerlich und larmoyant, so verquer und gequält in seinem Stil, wie es nur ein Jude sein könne:

    Mit Entsetzen stelle ich fest, dass ich Tuberkulose habe. Ich muss diese lästige Krankheit verbergen, denn sie würde mir einen Popularitätsanstieg in allen Hütten Europas bescheren. Angesichts eines reichen, verzweifelten, schönen und tuberkulosekranken jungen Mannes würden die kleinen Arierinnen plötzlich eine Berufung zur heiligen Blandine in sich fühlen. Um die Wohlgesinnten zu entmutigen, wiederhole ich vor Journalisten, dass ich JUDE bin. Folglich interessieren mich nur Geld und Wollust. Man findet mich sehr photogen: Ich werde widerliche Fratzen schneiden, ich werde Orang-Utan-Masken aufsetzen, ich will das Urbild des Juden sein, den sich die Arier um 1941 in der zoologischen Ausstellung im Palais Berlitz anschauen kamen. Ich wecke Erinnerungen bei Rabatête und Bardamu. Ihre Artikel voller Beschimpfungen sind der Lohn für meine Mühen. Leider liest diese beiden Autoren keiner mehr. Die Regenbogenpresse und die Klatschblätter singen hartnäckig Loblieder auf mich: Ich bin ein charmanter und origineller junger Erbe. Jude? Wie Jesus Christus und Albert Einstein. Na und? Als letzten Ausweg kaufe ich eine Jacht, die Sanhedrin, und mache aus ihr ein Luxusbordell. Ich liege in Monte Carlo, Cannes, La Baule und Deauville vor Anker. Aus drei Lautsprechern, die auf den Mastbäumen befestigt sind, schallen die Texte von Doktor Bardamu und Rabatëte, meinen bevorzugten PR-Männern: Ja, ich leite die jüdische Weltverschwörung mit Hilfe von Sexpartys und Millionen. Ja, der Krieg von 1939 ist durch meine Schuld erklärt worden. Ja, ich bin eine Art Blaubart, ein Menschenfresser, der kleine Arierinnen verspeist, nachdem er sie vergewaltigt hat. Ja, ich träume davon, den ganzen französischen Bauernstand zu ruinieren und das Cantal zu verjuden.

    Solche Sätze waren – und sind? – dem deutschen Leser offenbar lange Zeit nicht zumutbar gewesen. Das Terrain für Modianos sarkastische Art, die in den folgenden Romanen deutlich vermildert zutage tritt, dem Antisemiten und vor allem dem Philosemiten, dieser antisemitischen Variante, die vor allem in Deutschland zuhause ist, die Klischees wie nasse Lappen um die Ohren zu hauen, bedarf noch der Bearbeitung.

    Aber auch französische Leser scheinen, je länger das Buch existierte, ihre Probleme mit "La Place de l'Etoile" gehabt zu haben. Zweimal hat Patrick Modiano seinen Roman geringfügig überarbeitet. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass der Roman seit seiner zweiten Auflage mit einem Vorsatz erscheint, der wie ein Waschzettel des Verlegers wirkt und sowohl Titelblatt, Widmung und Motto – dem eben erzählten Witz – vorgeschaltet ist. Er wirkt wie eine Art Warnung, wie man sie von Gebrauchsanweisungen für gefährliche Geräte kennt. Und eine solche wurde offenbar umso nötiger, je mehr sich die französische Öffentlichkeit des Schicksals der französischen Juden bewusst wurde. Das Problem lange Zeit verdrängend, im Jahre des Erscheinens, 1968, mit anderen Dingen beschäftigt, und in der Gewissheit, dass die Juden und das, was ihnen angetan wurde, ein deutsches Problem seien, ließ man Modiano gewähren. Seit 1975 aber liest man gleich nach dem Impressum:

    Der Erzähler, Raphaël Schlemilowitsch, ist ein halluzinierender Held. Durch seine Gestalt wandern und kreisen auf rasenden Bahnen tausend Leben, die seine eigenen sein könnten, in einer aufwühlenden Phantasmagorie. Tausend widersprüchliche Identitäten unterwerfen ihn dem Wirbel des Wortwahns, wo der Jude mal König, mal Märtyrer ist und sich die Tragödie hinter Narrenpossen verbirgt. Und so sehen wir reale und fiktive Personen vorüberziehen [ ... ] Karussellfiguren vergleichbar, die sich wie verrückt drehen in Raum und Zeit. Doch wenn das Buch wieder zuklappt, erscheint die Place de l'Etoile genau im Mittelpunkt der "Hauptstadt der Schmerzen".

    Eine Phantasmagorie, ein Karussell, eine Narrenposse, kurz: eine Kirmes, ein Jahrmarkt, ein Karneval, darin Realität und Fiktion sich vermischen. All dies ist dieser Roman ganz gewiss. Aber der Vorsatz wirkt auch wie eine Entschärfung, eine Leitplanke für Leser, die das Ganze falsch verstehen könnten. Und auch die deutsche Übersetzung erscheint mit dieser und einer weiteren, einer zweiten Leitplanke, dem sehr instruktiven und langen Nachwort der Übersetzerin Elisabeth Edl. Das ist sehr löblich, aber man fragt sich, warum ein Roman, in dem ein Jude so absichtsvoll überzeichnet auftritt, dass der Stereotyp auf eine Art ins Auge springt, wie wir es sonst nur aus Romanen von Edgar Hilsenrath, etwa "Der Nazi und der Frisör", kennen (aber wer hat diesen glänzenden Roman gelesen, bei dem sich ein wahrhaftiger Kitschier wie Jonathan Littell genauso bedient hat wie bei Modiano), nur mir solchen Krücken, solchen Beirädern, in die Leserschaft entlassen wird. Sollten wir immer noch nicht in der Lage sein, so etwas ohne Anleitung zu lesen?

    Vielleicht. Denn es kommt noch schlimmer: Viele Leser und Kenner des Gesamtwerks von Modiano haben immer wieder auf den autobiografischen Aspekt seiner Romane hingewiesen. Über den Begriff "autobiografisch" wäre zu streiten. Aber es steht fest, dass Modianos Vater, ein Jude, der sich, wie so viele, nicht als Jude verstand, ein äußerst wendiger Geschäftsmann war, der, ob freie Republik oder Besatzungsregime, stets zwischen Bankrott und internationalem Schiebertum hin- und herlavierte. Und dies eher zu seinen Ungunsten . . .

    In seiner kurzen Lebensbeschreibung, 2005 erschienen und seit 2007 unter dem Titel "Ein Stammbaum" auch auf Deutsch zu lesen, setzt Modiano diesem Vater ein Denkmal. Kein sehr schmeichelhaftes – er war ein miserabler Vater und ein nicht weniger miserabler Geschäftsmann, der sich mit übelsten Partnern zusammentat -, aber doch ein sehr empathisches, geradezu warmherziges Denkmal. Er, der Vater, erscheint als ein wahrer Schlemihl, der, wie jeder andere Mensch, das Recht hatte, schlecht zu sei, moralisch zu versagen.

    "Un pédigrée" lautet der Titel dieses Lebensberichts, und das kann man kaum mit "Lebenslauf" übersetzen. Pédigrée, das ist in Frankreich der Name eines Hundefutters, und der "pédigrée" meint den Stammbaum eines Pferdes oder eben eines Hundes. Und so sieht Modiano sich und seine Familie – oder das, was ihm davon blieb – selbst: als einsamen, herumstreunenden und immer wieder von der Sippe verstoßenen Hund.

    Und es lässt sich denn auch, im Lichte dessen, was später kam, dieser erste Roman, "La place de l'Etoile", bedingt autobiografisch lesen. Es ist eine Art "Autofiktion", in die Erlebtes und Erinnertes, Erzähltes und Erlesenes einfließen. Und in der alles kunstvoll vermischt wird, auf dass ein höherer Gehalt an Wahrheit hervortrete, auf Kosten der historischen Plausibilität. Das bringt Anachronismen hervor. Aber wer sagt uns, dass vermeintlich Vergangenes nicht gegenwärtiger ist als die vermeintliche Gegenwart? So endet der Bericht des Raphaël Schlemilowitsch unvermeidlich auf der Couch des Doktors Sigmund Freud, der lange vor seiner – und Modianos – Geburt gestorben ist.

    "Sie können ein gesunder junger Mann werden, optimistisch und sportlich, versprochen! Hier, ich will, dass Sie den scharfsinnigen Aufsatz ihres Landsmannes Jean-Paul Schweitzer de la Sarthe lesen: Betrachtungen über die Judenfrage. Sie müssen unbedingt eines begreifen: den JUDEN GIBT ES NICHT, wie Schweitzer de la Sarthe vollkommen richtig sagt. SIE SIND KEIN JUDE. Sie sind ein Mensch unter anderen Menschen, das ist alles. Sie sind kein Jude, ich wiederhole es noch einmal, Sie haben einfach nur halluzinatorische Delirien, Wahnvorstellungen, weiter nichts, eine ganz leichte Paranoia ... Niemand will ihnen Böses tun, mein Kleiner, alle möchten bloß nett zu Ihnen sein. Wir leben heuet in einer friedlichen Welt? Himmler ist tot, wie kommt es, dass Sie sich an all dies erinnern, Sie waren noch gar nicht geboren, kommen Sie, seien Sie vernünftig, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, ich ... ."

    Ich höre Doktor Freud nicht mehr zu [ ... ].

    "Hören Sie auf mit diesem Herumgefuchtel!", sage ich zu ihm. "Als behandelnden Arzt lasse ich nur Doktor Bardamu gelten. Bardamu Louis-Ferdinand ... .. Jude wie ich ... Bardamu. Louis-Ferdinand Bardamu ... ."
    Ich bin aufgestanden und mühsam bis zum Fenster gegangen. Der Psychoanalytiker schluchzte in einer Ecke. Draußen glitzerte der Pötzleinsdorfer Park im Schnee und in der Sonne. [ ... ] Ich dachte an die Zukunft,, die mir in Aussicht gestellt wurde. Schelle Heilung dank guter Pflege durch Doktor Freud, Männer und Frauen erwarten mich an der Klinikpforte mit ihren warmen und freundschaftlichen Blicken [ ... ]
    Leise schlüpfe ich hinter den Psychiater und tätschle ihm den Schädel.
    "Ich bin so müde", sage ich, "so müde ... "


    Es ist nur verständlich, dass der Held nach all seinen Abenteuern – von der Dreyfus-Affäre über Petains Vichy-Regierung bis in die Gegenwart der Nachkriegszeit – müde ist. Zu gönnen ist ihm und seinen Lesern die Ruhe derer, die unbehelligt ihrem Leben und ihren Geschäften nachgehen dürfen.

    Patrick Modiano: Place de l'Etoile
    aus dem Französischen von Elisabeth Edl,
    München, Carl Hanser Verlag, 2010