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Furtwängler

Sie nannten ihn "Fu". Die Berliner hatten ihre eigene Bezeichnung gefunden. Doch mit Kosenamen allein ist ihm nicht beizukommen. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler gilt bis heute als eine der herausragenden und zugleich zweifelhaftesten Künstlerpersönlichkeiten des letzten Jahrhunderts.

Christoph Vratz | 22.10.2003
    Herausragend – wegen der Musik, die er machte (von Breslau, Straßburg, Lübeck und Mannheim über Leipzig bis hin zu seinen Großauftritten bei den Wiener und Berliner Philharmonikern). Zweifelhaft – weil man ihn immer wieder in die nazibraune Ecke abschob, da er nach Ansicht vieler das Hitlerregime unterstützt, zumindest aber geduldet habe.
    Furtwängler war von jeher Zankapfel und Mythos, er wurde vereinnahmt, vergöttert und verdächtigt. Nun hat Herbert Haffner in einer 500-seitigen, sorgsam recherchierten Biographie Furtwänglers Leben neu aufgerollt und räumt mit so manchem Klischee auf. Etwa, dass Furtwängler immer der Langsame, der mit den breiten Tempi war. Sein italienischer Kollege und Widersacher Toscanini galt dagegen immer als der Rasante. Haffner aber relativiert:

    Auf Toscaninis Konto geht eine der zeitlich längsten "Parsifal"-Aufführungen (erster Aufzug über zwei Stunden), während Furtwängler in Mailand eine der schnellsten aller Zeiten (erster Aufzug knapp 44 Minuten) dirigiert hat und seiner Frau erklärt, "dass er die großen, bedeutenden und wichtigen Stellen durchaus breit nähme, die Schönheit nicht verkürze, wohl aber voranginge."

    Mag dieses Beispiel pars pro toto gelten. Haffner setzt auf Sachlichkeit, wo viele Furtwängler-Biographen zuvor beweihräucherten. Auch wenn dabei der Komponist Furtwängler zu kurz kommt, Haffner legt den Blick offen auf den Menschen Furtwängler. Bezeichnend, dass rund die Hälfte des Buches den zwölf Jahren des Dritten Reichs gewidmet ist, jener Zeit also, die für Furtwängleristen zum Nährboden für Vorurteile und Schubladendenken wurde. Haffner indes hält sich an Quellen, die er denkbar zahlreich und aus denkbar verschiedenen Lagern herbei getragen hat. Er hat Goebbels’ Tagebücher und Aussagen Hitlers herangezogen, hat Briefe von und an Furtwängler ausgewertet, sich in alten Zeitungen und in neuerer Forschungsliteratur umgetan sowie zahlreiche Äußerungen von Musikerkollegen zusammengetragen. Auf diese Weise ergibt sich ein differenziertes Gesamtbild, an dessen Ende ein nüchternes Fazit steht:

    Musikalisch gesehen war Wilhelm Furtwängler der vielleicht letzte große Repräsentant einer "deutschen" Musik sowie des konservativen, national denkenden Bürgertums. So wurde er ein Utopist, der zahlreiche Illusionen lebte: die Illusion zum großen Komponisten berufen zu sein, die Illusion, dass die Kunst bessere Menschen mache, die Illusion, dass es ein "ewiges Deutschtum" gebe, in dem es möglich sei, eine "totale künstlerische Existenz" zu leben und seine größte Illusion, nämlich dass Kunst und Politik zu trennen seien.

    Als sich Furtwänglers Ära ihrem Ende neigte, hatte das Berliner Publikum längst einen Nachfolger als Liebling erkoren: medien- und machtgewandt, Jung-Star im besten Alter - Herbert von Karajan hatte die Bühne betreten. Haffner bringt die jeweiligen Bedürfnisse des Publikums auf den Punkt.

    Wie Karajan mit seinen klangschönen, luxusoberflächigen Interpretationen in der bundesdeutschen Wirtschaftswunder-Zeit den Wunsch des Publikums, aus einer zerbombten Umwelt in eine heile Musikwelt entführt zu werden, als Marktlücke entdeckt so entspricht Furtwängler – in der Oberflächlichkeit, wie man ihn gemeinhin sieht – den Erwartungen dieser "neuen Zeit" nach Pathos, nach großer Geste, nach Heroismus.

    Ihm, Karajan, hat der englische Musikschriftsteller Richard Osborne eine Biographie gewidmet, die im Vergleich zu Haffners Furtwängler-Buch nicht nur den doppelten Umfang aufweist, sondern grundsätzlich mit Höchstnoten bedacht werden muss. Gut, es ließe sich einwenden, dass Osborne über einige Tatsachen wie die Manipulationen an Wagners "Ring" großzügig hinweggewischt hat und dass über Karajans Orchesterphilosophie (Stichwort Bach) bzw. seine oft majestätisch-opulente Klangästhetik relativ wenig gesagt wird.

    Doch angesichts des Kenntnisreichtums, angesichts der über jeden Zweifel erhabenen Fülle von Details, Beobachtungen und Wertungen, die Osborne zu einem durchgehend spannenden Text komponiert hat, spiegelt diese Biographie einen wesentlichen Teil der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Kurzum: ein exzellentes Buch, kurzweilig, intelligent, aufregend und, bei aller Seriosität, immer wieder unterhaltsam. Etwa wenn Karajan sich über rückblickend über die Rivalität zu Altmeister Furtwängler erinnert:

    Die Sache entwickelte sich zu einer Art Hahnenkampf, bei dem man entweder auf Furtwängler oder mich wettete. In den Zeitungen stieß man auf Kleinanzeigen wie: "Suche zwei Karten für Karajan-Konzert; biete zwei Furtwängler-Karten" oder "Karajan-Abonnement gegen fünf Zwiebeln gesucht."

    Herbert Haffner: Furtwängler.
    Berlin, Parthas (arte edition) 2003, 496 Seiten, 39,80 €.
    ISBN 3-932529-45-6


    Richard Osborne: Herbert von Karajan.
    Leben und Musik. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer und Reinold Werner.
    Zsolnay, Wien, 1053 Seiten, 58 €
    ISBN 3-552-05171-6

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