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Armenien vor der Parlamentswahl
Euphorie und Skepsis nach der Samtenen Revolution

Der neue armenische Premierminister Nikol Paschinjan hat für den 9. Dezember Neuwahlen angekündigt. Nur mit einer Mehrheit im Parlament kann er seine Reformpläne umsetzen. Doch auch wenn die Aufbruchstimmung überall zu spüren ist, gibt es Stimmen, die zur Vorsicht und vor übergroßer Euphorie warnen.

Von Daniel Heinrich | 26.11.2018
    Anfang Mai protestierten tausende Armenier gegen die Regierung
    Anfang Mai protestierten tausende Armenier gegen Korruption und Vetternwirtschaft in der Regierung - die Samtene Revolution leitete einen Regierungswechsel ein (Imago/Artyom Geodakyan)
    Kostenloses W-LAN, gedimmtes Licht, veganes Essen und im Hintergrund Elektro-Musik: Yana Mkrythan liebt das hippe Café in der Innenstadt von Jerewan. Die 32-Jährige – schwarze knöchelhohe Stiefel, enge Jeans und übergroßer Pulli – leitet eine NGO, die junge Menschen für Demokratie begeistern will. Über die politischen Umwälzungen, die Armenien seit Beginn dieses Jahres erfasst haben, ist sie begeistert. Vor allem den Sozialen Medien misst sie eine entscheidende Bedeutung bei:
    "Facebook hatte einen riesigen Anteil an der sogenannten "Samtenen Revolution." Ich würde sagen, es hat zu den wichtigsten Hilfsmitteln der friedlichen Proteste gehört. Der Anführer der Revolution, Nikol Paschinjan, hat über seinen Facebook-Kanal alle seine Reden übertragen. Er hat den Leuten immer gesagt wo er ist, was er macht. Er hat die Leute via Facebook gebeten, aktiv zu werden und sich an den Protesten zu beteiligen. Alle sind ihm rund um die Uhr bei Facebook gefolgt. Die Leute sind zu den Worten Paschinjans morgens aufgestanden und abends ins Bett gegangen. Er hat das echt richtig gut organisiert."
    Yana Mkrythan
    Die 32-jährige Armenierin Yana Mkrythan ist von den politischen Umwälzungen in ihrem Land begeistert (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Das kann man wohl sagen: Paschinjan, früher erfolgreicher Journalist dann Oppositionspolitiker, ist zur Symbolfigur der Proteste geworden. Seinem Facebookprofil folgen über 580.000 Menschen. In einem Land, in dem nur drei Millionen Menschen leben, ist das eine beeindruckende Zahl.
    Politischer Wandel als Vorbild für Gesellschaft
    Begeisterung für Nikol Paschinjan alleine reicht Mikael Zolyan nicht aus. Zum ersten Mal in seinem Leben kandidiert der nachdenkliche Politikwissenschaftler bei den Parlamentswahlen Anfang Dezember für ein politisches Amt – als Kandidat des Koalitionsbündnisses um die Partei von Nikol Paschinjan. Zolyan hat kein Büro. Er hat keine Visitenkarte. Dafür jede Menge Enthusiasmus:
    "Die Revolution hat die Mentalität der Menschen verändert: Die Armenier realisieren, dass sie tatsächlich etwas tun können. Dass sie tatsächlich Einfluss auf Entscheidungsprozesse und auf Entscheidungen der Regierung haben können, entweder indem sie demonstrieren, indem sie wählen gehen, oder sich am öffentlichen Diskurs beteiligen. Ich hoffe stark, dass diese Wahlen nicht nur die politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament verschieben, sondern, dass sich auch die politische Kultur nachhaltig zum Positiven verändert."
    Arusyak Julhakyan
    Arusyak Julhakyan (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Dass der Wandel in der Politik auch auf die Gesellschaft abfärbt, darauf setzt auch Arusyak Julhakyan. Julhakyan empfängt im Rathaus von Jerewan, ein in Stein gehauenes Monumentalbauwerk an einer Ausfallstraße. Sie hat schon geschafft, was Mikael Zolyan noch vorhat. Sie wurde im September in ein öffentliches Amt gewählt, den Stadtrat von Jerewan. Eine Frau in einer Führungsposition. In Armenien keine Selbstverständlichkeit.
    "Bisher dachte die Gesellschaft als Ganzes und auch viele Frauen, dass sie in der Politik nichts bewegen können. Viele Menschen in diesem Land sind sehr lange dem traditionellen Rollenbild nachgeeifert. Als Frau bedeutete das: Geboren zu werden, einen Mann zu finden, zu heiraten, Kinder zu bekommen und diese dann groß zu ziehen. Das wurde als ihre Aufgabe, als die Aufgabe ihres Lebens erachtet. Daran hat sich, gerade in den vergangenen Monaten, viel verändert. Ich nehme viele Frauen wahr, die sich damit nicht mehr zufriedengeben wollen. Viele Frauen wollen aktiv an den Veränderungen in der Gesellschaft teilnehmen, sehen sich auch im Beruf in anderen Positionen."
    Zweifel an der Euphorie
    Eine friedliche Revolution, organisiert per Facebook, getragen von der Jugend des Landes, geeint durch den gemeinsamen Glauben an Demokratie, Frauen- und Bürgerrechte. Obendrein noch Begeisterungsstürme für einen charismatischen Politstar.
    Anush Sedrakyan
    Anush Sedrakyan (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Anush Sedrakyan hat, milde formuliert, so ihre Zweifel am rosaroten Erzählstrang, der seit Monaten den öffentlichen Diskurs bestimmt. Die Literatur-Professorin an der Staatlichen Universität Jerewans ist mit dem armenischen Politikbetrieb bestens vertraut. Für zwei der letzten drei Präsidenten des Landes hat sie als Beraterin gearbeitet:
    "Niemand in Armenien folgt einer politischen Idee aufgrund wirklicher Überzeugung: Bisher war es immer das gleiche Spiel: Entweder du gehörst zu uns, oder du gehörst zu den anderen. Und wenn du zu den anderen gehörst, bist du für uns gestorben.
    Mit dieser Mentalität kann man keine demokratische Gesellschaft formen. Man sollte politische Ideale haben, aus politischer Überzeugung für eine Sache streiten wollen. Das ist die Basis für alles Weitere. Wenn sich daran nicht schnell etwas ändert, ist die politische Entwicklung in Armenien zum Scheitern verurteilt."
    Optimistische Jugend
    Zurück in der Jeriwaner Innenstadt: Im hippen Café der urbanen Elite prallen die harten Worte Sedrakyans auf den weichen Milchschaum der Cappuccinos, Smartphone-Apps, und den unerschütterlichen Enthusiasmus der jungen Erwachsenen. Sicherlich, so Yana Mkrythan, mache auch sie sie sich Gedanken – zum Beispiel um die Unerfahrenheit vieler Polit-Neulinge. Ihrem Optimismus für die Zukunft tut das aber keinen Abbruch:
    "Natürlich bin ich stolz. Ich denke, dass auch die meisten Armenier stolz darauf sind, dass sie diese bewegenden Zeiten miterleben und mitgestalten können. Alle waren so demotiviert und desillusioniert. Niemand hätte sich auch nur im Traum vorstellen können, dass so etwas in Armenien passieren könnte. Dass wir dieses korrupte politische System ändern können. Aber es ist tatsächlich passiert. Wir haben es geschafft. Die Leute haben nun das Gefühl an etwas Großem teilzuhaben."
    Dass es etwas Großes ist, etwas Historisches ist, was in diesem kleinen Land zwischen Türkei, Aserbaidschan, Iran und Georgien passiert. Darauf können sich wohl alle einigen. Ob diese großen Veränderungen auch gute Veränderungen für eine Mehrheit der armenischen Gesellschaft bringen werden, werden vor allem die Wochen und Monate nach den Wahlen am 9. Dezember deutlich machen.