Donnerstag, 28. März 2024

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Musik aus dem 14. bis 16. Jahrhundert
Avantgardistisch, geistreich, subtil

Extravaganz ist keine Sache der Neuzeit. Schon im Mittelalter und in der Renaissance gab es außergewöhnliche Musiker, die mit ihrer Klangkunst auch heute überraschen können. Das beweisen das Ensemble Santenay und Musiker um den englischen Tenor John Potter in ihren jüngsten CD-Produktionen.

Am Mikrofon: Helga Heyder-Späth | 17.09.2017
    Heute stellen wir Ihnen zwei neue CDs mit Musik aus dem späten Mittelalter und der Renaissance vor: Ein Ensemble um den englischen Tenor John Potter hat für das Label ECM Werke der beiden Renaissance-Komponisten Josquin Desprez und Tomás Luis de Victoria in den Blick genommen. Bevor wir zu ihrer besonderen Lesart dieser Musik kommen, schauen wir mit dem Ensemble Santenay noch etwas weiter zurück, in die Zeit um 1400. Damals erblühte vor allem in Frankreich und Italien ein besonders extravaganter Musikstil: die sogenannte "Ars subtilior".
    Musik: Baude Cordier - Tout par compass
    Im Kreis notiert
    "Tout par compas" – "Wie mit einem Zirkel komponiert bin ich." Mit diesen Worten beginnt ein Kanon, den das Ensemble Santenay auf seiner neuen CD eingespielt hat. Der Text ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn der Komponist Baude Cordier notierte das kurze Stückchen tatsächlich als Kreis. Ein mit zarten Farben und etwas "nebulös" dargestelltes Negativ dieses originellen Manuskripts schmückt dann auch das Cover der CD. Sie ist gerade bei dem belgischen Label Ricercar erschienen, unter dem Titel "Think subtilior".
    Die vier Musiker von Santenay laden dazu ein, in die Klang- und Gedankenwelt der "Ars subtilior" einzutauchen. Tatsächlich entfaltete sich um 1400 eine musikalische Strömung, die feinsinnig, detailfreudig und spitzfindig – eben subtil – ist. Schon die vertonten Texte sind gespickt mit Anspielungen, die sich heute oft nur schwer entschlüsseln lassen. Auch die bisweilen schon erstaunlich komplexen, in der Regel bis zu dreistimmigen Kompositionen wirken avantgardistisch, artifiziell und expressiv zugleich.
    Intellektuelle Wortspiele
    Santenay nimmt vor allem einen erlesenen Kreis von Musikern, Dichtern und Denkern aus dem Umfeld des französischen Königshofs in den Blick, deren Kopf der Lyriker Eustache Deschamps war. Sie nannten sich "Cercle des Fumeux" oder einfach nur "Les Fumeux". Schon der Name war eine intellektuelle Spielerei, nicht nur, weil eines der Mitglieder Jean Fumeux hieß. Das Wort "fumée" hatte im Mittelfranzösischen eine Fülle von Bedeutungen. Wörtlich übersetzt heißt es so viel wie Rauch, Qualm oder Nebel. Auch das Rauchen kann gemeint sein: Zwar war der Tabak damals in Europa noch nicht bekannt, die Wirkung von anderen ätherischen Dämpfen aber schon... Außerdem stand "fumée" – so erfährt man im Booklet – im übertragenen Wortsinn für Wut, Verblendung und Wahnsinn. Beide Aspekte schwingen in dem geistreichen Rondeau "Fumeux fume par fumee" mit:
    "Der Raucher echauffiert sich im Rauch
    versunken in seine verrauchten Gedanken
    und erfüllt sich selbst und seine Gedanken mit Rauch."
    Musik: Solage - Fumeux fume par fumee
    "Fumeux fume par fumee" gehört zu den extravagantesten und harmonisch reizvollsten Werken der "Ars subtilior". Es stammt von Solage, einem der führenden Köpfe dieser musikalisch-literarischen Strömung. Über sein Leben ist kaum etwas bekannt, was übrigens für die meisten Komponisten gilt, die Santenay hier präsentiert. Von einigen kennt man nicht einmal den Namen.
    Die vier Musiker von Santenay haben sich 2004 am Institut für Alte Musik in Trossingen kennengelernt und widmen sich seither gemeinsam der Musik von Mittelalter und Renaissance. Die Sängerin Julla von Landsberg spielt dabei auch das Organetto: eine Miniatur-Orgel, bei der der Spieler mit einer Hand die Tasten bedient, mit der anderen einen kleinen Blasebalg. Elodie Wiemer übernimmt die Blockflöte, Orí Harmelin die Laute und Szilárd Chereji die Viella, ein gambenartiges Streichinstrument.
    Reizvolle Gestaltungsmöglichkeiten
    Die Instrumente sind hier gelegentlich nicht nur im Original zu hören, sondern auch in kurzen gesampelten Kollagen von Thora-Harald Johnsen, die lose in die Programmfolge eingestreut werden. Sie wollen ein wenig Atmosphäre schaffen und wohl auch das Motiv von Rauch und Nebel aufgreifen. Man kann sie mögen oder nicht. Die eindrucksvolle spätmittelalterliche Musik hätte solch einen "Soundtrack" jedenfalls nicht nötig. Denn Santenay interpretiert die Werke sensibel und mit viel Lust am Detail. Besonders reizvolle Gestaltungsmöglichkeiten bietet da die anoyme Chanson "Onques ne fu si dure pertie", in der von der grausamen Trennung zweier Liebender die Rede ist. Auch hier findet sich wieder ein subtiles Wortspiel: Die Chanson imitiert unter anderem den Gesang einer Nachtigall, und zwar auf dem Wort "Oci", dem mittelfranzösischen Imperativ "töte".
    Musik: Anonymus, Onques ne fu si dure pertie, Santenay
    Drei Männer und eine Frau stehend unter einem gemauerten, alten Torbogen
    Jacob Heringman, Ariel Abramovic, Anna Maria Friman, John Potter (Guy Carpenter/ ECM Records)
    Extravagante Klänge aus der Zeit um 1400 präsentiert das Ensemble Santenay auf seiner neuesten CD. Mit einer zweiten Produktion, die wir Ihnen heute vorstellen, schauen wir jetzt ins 15. und 16. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen zwei Renaissance-Komponisten, die schon zu Lebzeiten als Meister ihres Faches galten: Josquin Desprez und sein hundert Jahre jüngerer Kollege Tomás Luis de Victoria. Ihre durchaus auch "subtile" Musik gehört zum klassischen Repertoire vieler Vokalensembles. Der Sänger John Potter und einige Kollegen betrachten sie aber einmal aus einer etwas anderen Perspektive, nämlich aus der Sicht der Instrumentalisten. Vieles, was in der Renaissance als Vokalmusik gedruckt wurde, kursierte bald auch in diversen Instrumentalfassungen. Vor allem Lautenisten haben sich in diesem Repertoire gerne bedient:
    Musik: Josquin Desprez - Obsecro
    "Secret History" so heißt die neue CD mit den Lautenisten Ariel Ambramovich, Jacob Heringman und Lee Santana sowie der Gambistin Hille Perl. Zusammen mit dem Sänger John Potter beschreiten sie etwas andere Wege der historischen Aufführungspraxis. Die orientiert sich – ähnlich wie die klassische Musikwissenschaft – in der Regel vor allem an den musikalischen Quellen, die besonders nah am Komponisten sind. Bei Josquin und Victoria wären das die originalen Druckausgaben. Das versperrt bisweilen den Blick für die vielseitigen aufführungspraktischen Möglichkeiten des 16. Jahrhunderts.
    Rein vokale Ausführungen von Motetten und Messen gehörten damals genauso zum Alltag wie diverse instrumentale Spielarten von ursprünglich textgebundener Musik. Solche "alternativen" Musizierpraktiken nehmen John Potter und seine Kollegen zum Ausgangspunkt. Auch wenn der CD-Titel von einer "geheimen Geschichte" spricht – ganz unbekannt ist dieser Ansatz heute längst nicht mehr. Aber vielleicht ist er hier doch einmal besonders konsequent durchgespielt.
    Im Mittelpunkt der CD steht die fünfstimmige "Missa Surge Propera" von Tomás Luis de Victoria, aus der Sie jetzt das "Kyrie" hören können.
    Musik: Tomás Luis de Victoria - Kyrie
    Wer die dichte Klangsinnlichkeit etwa des Hilliard Ensembles liebt, mit dem der Name John Potter ja eng verbunden ist, der wird bei dieser CD nicht auf seine Kosten kommen. Hier geht es vielmehr darum, die filigranen satztechnischen Raffinessen vorzustellen, für die Josquin und Victoria in ihrer Zeit berühmt waren. Ihnen ging es offensichtlich nicht nur um einen kunstvollen Kontrapunkt, sondern auch um eine melodisch und harmonisch reizvolle Gestaltung der einzelnen Stimmen.
    Filigrane Satzkunst und fließende Melodien
    Potter und seine Kollegen haben nicht etwa auf überlieferte Instrumentalfassungen aus dem 16. Jahrhundert zurückgegriffen, sondern ihre eigenen Arrangements erstellt. Da mag mancher Purist die Nase rümpfen. Letztlich haben die Musiker der Renaissance aber auch nichts anderes getan.
    Das Ergebnis ist überzeugend, nicht zuletzt, weil Ariel Ambramovich, Jacob Heringman, Lee Santana und Hille Perl als Kenner dieser Musik genau wissen, was sie tun. Das gilt auch für die beiden Sänger. An der Seite von John Potter ist Anna Maria Friman vom Trio Mediaeval zu hören. Beide gestalten die fließenden Linien ihrer Partien schlank und nuanciert. Berührend ist ihre Interpretation der Chanson-Motette "Nymphes des Bois". Dieser Klagegesang auf den Tod seines Lehrers Johannes Ockeghem gehört zu den expressivsten Werken von Josquin.
    Musik: Josquin Desprez - "Nymphes des Bois"
    In der Neuen Platte im Deutschlandfunk haben wir heute zwei Neuerscheinungen vorgestellt. Beim Label ECM ist gerade eine übrigens schon 2011 entstandene Aufnahme mit überwiegend geistlichen Werken von Josquin Desprez und Tomás Luis de Victoria erschienen, interpretiert von den beiden Sängern John Potter und Anna Maria Friman sowie den Instrumentalisten Ariel Ambramovich, Jacob Heringman, Lee Santana und Hille Perl. Die CD mit dem Titel "Secret History" ist in Deutschland über den Vertrieb Universal erhältlich.
    Der "Ars subtilior" hat sich das Ensemble Santenay gewidmet. Ihre neue CD "Think Subtilior" hat das Label Ricercar gerade veröffentlicht. Sie wird in Deutschland über Note 1 vertrieben.
    Think Subtilior
    Cercle des Fumeux. Songs and Sounds
    Santenay
    Ricercar RIC 386 // LC 08851
    Secret History
    Sacred Music by Josquin and Victoria
    John Potter, Anna Maria Friman, Ariel Abramovic, Jacob Heringman, Lee Santana
    ECM 2119 // LC 02516