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Fußball-EM
Mythos Heimvorteil

Frankreich hofft auf einen Erfolg bei der EM im eigenen Land, muss aber mit dem größten Druck aller Nationen fertig werden. Seit 2006 taten sich alle Gastgeber großer Turniere schwer - ist der Heimvorteil am Ende womöglich gar keiner mehr?

Von Daniel Theweleit | 11.06.2016
    Dimitri Payet feiert den Siegtreffer zum 2:1 der Franzosen im Eröffnungsspiel der Fußball-EM gegen Rumänien.
    Dimitri Payet feiert den Siegtreffer zum 2:1 der Franzosen im Eröffnungsspiel der Fußball-EM gegen Rumänien. (picture alliance / dpa / Marius Becker)
    Natürlich wird der französische Nationaltrainer Didier Deschamps in diesen Tagen häufig auf das Schicksal angesprochen, das die brasilianische Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren ereilte. Nach einem jahrelangen Hype um das Turnier wurden geradezu Wunderdinge von den Fußballern erwartet. Als die Spiele dann begannen, konnte das Team keine Leichtigkeit entwickeln.
    Mit Glück schleppte die Mannschaft um den Superstar Neymar sich ins Halbfinale, wo sie von den Deutschen mit einer krachenden 7:1-Niederlage aus dem Turnier befördert wurde. Diese EM findet nun in Frankreich statt, und auch die Équipe Tricolore spürt die Last der Gastgeberrolle, wie Trainer Deschamps offen einräumt. "Ja, in Brasilien, da gab es einen großen öffentlichen Druck, die sind im Halbfinale bei voller Fluggeschwindigkeit explodiert. Die Menschen erwarten immer viel von den Heimmannschaften, und es gab noch nicht viele Gastgeber von Welt- oder Europameisterschaften, die im eigenen Land erfolgreich waren."
    Seit 2006 gingen die Gastgeber regelmäßig unter
    Frankreich gehört zu den wenigen Ausnahmen. 1984 wurde die Mannschaft im eigenen Land Europameister und 1998 gewann das berühmte Ensemble um Zinedine Zidane in Paris den Weltmeistertitel. Seit Deutschland 2006 seine sagenumwobene Sommermärchen-WM spielte, haben jedoch alle Gastgeber von Welt- Und Europameisterschaften enttäuscht. 2008 schieden die Schweiz und Österreich bereits in der EM-Vorrunde aus. Südafrika blieb 2010 ebenfalls in der Gruppenphase hängen, Polen sowie der Ukraine erging es 2012 auch nicht besser. Gefolgt vom brasilianischen Zusammenbruch vor zwei Jahren.
    Ist die Gastgeberrolle bei großen Turnieren wirklich ein Vorteil? Daniel Memmert, vom Institut für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln bezweifelt das. "Also ich sehe da eine Medaille mit zwei Seiten. Auf der einen Seite gibt es einen Heimvorteil und natürlich wissen die Franzosen, dass sie zwei große Turniere im eigenen Land gewonnen haben. Das gibt auf jeden Fall Selbstvertrauen, und man kann aus der Vergangenheit Mut schöpfen. Auf der anderen Seite kann das auch lähmen. Es kommt ziemlich stark darauf an, wie der Heimvorteil interpretiert wird und wie groß der Druck ist, den die Franzosen auf ihre Nationalmannschaft aufbauen. Und das kann dazu führen, dass der Druck erdrücken kann, das haben wir beispielsweise in Brasilien gesehen."
    Sportler als Heilsbringer verklärt
    Die Fußballer, die sich eigentlich auf das Spiel konzentrieren sollen, werden mittlerweile immer öfter zu Heilsbringern verklärt, die unterschiedlichste Probleme ihres Heimatlandes lösen sollen. Welt- und Europameisterschaften sollten schon Völker einen, Wirtschaften ankurbeln, politische Impulse geben und natürlich: die Menschen glücklich machen.
    Diese Art der Überfrachtung wird von den Spielern aber meist als Last empfunden, sagt Memmert. "Wir wissen auch, dass der Druck der von den Medien aufgebaut wird und auch von der Gesellschaft, die Spieler sind heutzutage ja alle vernetzt, die kriegen jede Regung im Land mit. Und dieser Druck der eigenen Regierung, des eigenen Landes, der eigenen Fans, das ist schon ein richtig wichtiger Punkt und man tut gut daran, das auf ein realistisches Maß runterzuschrauben."
    Gästeteams fühlen sich nicht mehr fremd
    Aber wie soll das gelingen? Die französische Öffentlichkeit diskutiert anlässlich der EM über Grundsatzfragen wie Rassismus in der Gesellschaft, das Turnier wird genutzt, um Streiks eine größere Wucht zu verleihen, und natürlich lastet die Terrorgefahr ganz besonders auf den Gastgebern. Wobei das das Phänomen Heimvorteil in den großen nationalen Ligen ohnehin mehr und mehr an Bedeutung verliert.
    Zwar sind Heimsiege fast überall noch häufiger als Erfolge von Auswärtsmannschaften, aber die verbesserte Logistik, der Reisekomfort und die modern ausgestatteten Stadien führen dazu, dass sich Gästeteams nicht mehr fremd fühlen auf ihren Reisen. Und in den besonders wichtigen Spielen zeige sich sogar ein "Heimnachteil, der daraus entsteht. Der Druck wird groß, alle erwarten, dass man gewinnt, der Trainer, die Spieler, das Management, die Fans und auch die Medien, alle erwarten, dass man gewinnt, weil man ja ein Heimspiel hat, was ja ein Vorteil sein muss. Das scheint zu lähmen, da sinkt der Heimvorteil massiv und dann kann die Auswärtsmannschaft zum Erfolg kommen."
    Diese Dynamik bekamen vor zwei Jahren die Brasilianer zu spüren, während Deutschland das Kunststück gelang, im berühmten Campo Bahia eine sehr fremde Umgebung als Quelle der Kraft zu nutzen.