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Fussball-WM 1974
90 Minuten Hass

Erinnerungen an den 2. Weltkrieg machten Spiele gegen Deutschland für die Niederländer zum Feld der Ehre. Das WM-Finale 1974 in München wurde mit jahrelanger Verspätung zum Trauma für die Niederlande.

Von Heinz-Peter Kreuzer | 06.07.2014
    90 Minuten Hass. So beschreibt der niederländische Autor Simon Kuper die Duelle dieser beiden Länder. "Dann haben die Holländer eines gemacht, was sie nicht hätten tun sollen. Sie haben sich zurückgezogen, Und sich auf das Konterspiel verlassen. Das heißt, wir haben dann das Mittelfeld besetzt und eigentlich das Spiel überlegen gespielt." Mit Erfolg: Noch vor dem Pausentee gingen die Deutschen mit 2:1 in Führung.
    In der zweiten Halbzeit rannten die Niederländer an. Flanke auf Flanke segelte in den deutschen Strafraum. Aber Torhüter Sepp Maier pflückte eine nach der anderen herunter. "Sie haben ja die Bälle immer hoch in den Strafraum reingeschlagen. Da war ich dann dafür da, die Bälle runter zu fischen."
    Ein emotionsloser Kommentar, anders als die legendäre Reportage von Herbert Zimmermann 1954. Das Endspiel 1974 war noch nicht eine jener Gift und Galle-Partien, die Kuper meint. Erst mit Verspätung löste die Niederlage bei unseren Nachbarn ein Trauma aus. Der 2. Weltkrieg spielte 1974 noch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige dachten daran: Wie Stürmer Willem van Hanegem. Er verlor im September 1944 bei einem britischen Bombenangriff auf sein Heimatdorf mehrere Angehörige, darunter den Vater und den 10-jährigen Bruder. Der Angreifer war eher die Ausnahme. Für die anderen waren Poolparties und lukrative Verträge wichtiger. Der niederländische Autor Auke Kok schrieb vor zehn Jahren den Bestseller„1974 - Wir waren die Besten." Er sieht die Gründe für die Niederlage im sportlichen Bereich: "Die Holländer sind viel zu überheblich ins Finale gegangen, man äffte, die Deutschen hätten sich wieder einmal ordentlich und gründlich vorbereitet. Man glaubte zu wissen, wie der Gegner spielt. Was man aber versäumt hat, war, sich den Gegner auf dem Feld anzuschauen, daran sind wir gescheitert."
    "Und unsere Gefallenen stiegen jubelnd aus ihren Gräbern"
    Das Verhältnis der beiden Nationalmannschaften änderte sich erst Jahre später. 1978 bei der WM in Argentinien boxte Dick Nanninga Bernd Hölzenbein in den Magen, Bei der Europameisterschaft 1980 trat Jonny Rep Torhüter Toni Schumacher in den Bauch. Höhepunkt der Feindschaft war das EM-Halbfinale zwischen der Oranje-Elf und den Deutschen. Das 2:1 für die Niederlande erzielte Marco van Basten.
    Der Lyriker Jules Deelder veröffentlichte ein Jahr nach der Partie in einer Anthologie mit dem Titel „Holland – Deutschland: Fußball-Lyrik." Das Siegtor von Marco van Basten beschrieb er mit diesen Zeilen: "Und unsere Gefallenen stiegen jubelnd aus ihren Gräbern."
    Der Sieg über den großen Nachbarn war wichtiger als der spätere Finalsieg gegen die Sowjetunion. Der erste niederländische Erfolg über Deutschland in elf Begegnungen seit 1956 versetzte das Land außer Rand und Band. An einem Dienstagabend strömten Millionen auf die Straßen und sorgten so für die größte Massenkundgebung seit der Befreiung von der NS-Besatzung. Innerhalb eines Tages hatte sich die nationale Psyche gewandelt. Einen Tag vor dem Duell hatte der 74er-Keeper Jongbloed gesagt, zwischen Holländern und Deutschen gebe es kein böses Blut mehr. Nach dem EM-Erfolg schickte er der Mannschaft im Namen der Elf von 1974 ein Telegramm, in dem es hieß: "Ihr habt uns alle von unserem Leiden erlöst." 1988 war das Klima zwischen beiden Ländern vergiftet. In den Niederlanden hatten antideutsche Ressentiments Konjunktur. Bei der WM 1990 kam es dann zum Eklat.
    Mitte der 1990er Jahre besserte sich das Beziehung zwischen den beiden Ländern. Den Holländern wurde ihre Rolle in den Kriegsjahren bewusst, die nicht so vorbildlich war, wie sie immer vorgaben. Das Verhältnis entkrampfte sich. Als Lothar Matthäus im Februar 2000 in Amsterdam mit 144 Länderspielen einen Weltrekord aufstellte. Überreichte ihm Oranje-Kapitän Edgar Davids einen Blumenstrauß.
    Duelle zwischen Deutschland und der Niederlande sind noch immer etwas Besonderes. Aber nicht mehr so giftig. Bestseller Autor Auke Kok sieht sein Buch als Befreiung. "Nun, manche bezeichnen mich als Deutschen-Freund, das aber ist eher ein Scherz. Nein, manch einer fühlt sich befreit durch dieses Buch. Sie können danach offener auf Deutschland und den Fußball zugehen."