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Chen Jianghong: "Sohn des Himmels"
Botschafter der chinesischen Kultur

Wenn die Chinesen die Schönheit des Herbstes feiern, essen sie kleine Mondkuchen. Was es mit dieser Tradition auf sich hat, erzählt uns Chen Jianghong in "Sohn des Himmels". Aus der Geschichte eines Jungen, der ohne Mutter aufwächst, wird bei Chen Jianghong großes Kino für Kinder und Erwachsene.

Von Thomas Linden | 21.09.2019
Buchcover Chen Jianghong: „Sohn des Himmels“
Ein Kranich bringt den "Sohn des Himmels" zu seiner Mutter (Buchcover Moritz Verlag)
Noch interessanter als die Welt der Götter ist das Leben der Menschen. Warum kämen die Götter sonst so gerne auf die Erde hinab? Ähnlich wie in der europäischen Antike ging es auch im Sagenhimmel der Chinesen zu. Der große chinesische Illustrator Chen Jianghong erzählt in seinem neuen Buch von der Prinzessin Xian-Zi, die einen verklärten Blick bekam, als sie aus dem Himmel auf das irdische Treiben schaute. Ohne ihren Vater, den Jade-Kaiser, um Erlaubnis zu bitten, steigt sie hinab zu den Menschen. Chen Jianghong zeigt sie uns in ihrer besonderen Schönheit mit fließenden Gewändern, einem mächtigen schwarzen Haarschopf, Mandelaugen und feingliedrigen Händen.
Etwas zu unternehmen, ohne zuvor den Segen der Eltern einzuholen, ist der erste Schritt zum Erwachsenwerden. Die Prinzessin begegnet einem jungen Mann, der verzweifelt um Hilfe für seine erkrankte Mutter bittet. Xian-Zi gelingt es, die Mutter zu heilen, danach kehrt sie nicht wieder in den Palast ihres Vaters zurück. Sie verliebt sich in den jungen Mann, und ein Jahr später kommt ein kleiner Junge zur Welt.
Verarbeitung biografischer Erfahrungen
Im Moritz Verlag, seiner verlegerischen Heimat in Deutschland, hat Chen Jianghong seit vier Jahren keinen Titel mehr veröffentlicht. Seine in China lebende Mutter war erkrankt, ihr ist das neue Buch mit dem Titel "Sohn des Himmels" gewidmet. Schon in der Vergangenheit erhielt das umfangreiche Werk des 56-jährigen Chinesen seine stärksten Impulse aus Chen Jianghongs Traditionsbewusstsein und seiner künstlerischen Verarbeitung biografischer Erfahrungen. In seinem neuen Buch findet Chen Jianghong in der Welt der Mythologie eine Antwort auf die Prüfungen der Realität.
Der Kaiser ist so erzürnt über das Verhalten seiner Tochter, dass er sie von seinen Drachenreitern entführen lässt. Das Buch zeigt diesen gewalttätigen Einbruch in die Welt der kleinen Familie wie eine Flutwelle. Man glaubt, den Lärm und die Schreie unmittelbar hören zu können. Die Zeit vergeht, der Sohn wird älter, irgendwann taucht die Frage auf: Warum haben alle Kinder eine Mutter, nur ich nicht?
So begibt er sich auf die Suche nach seiner Mutter, und eine Heldengeschichte nach klassischem Muster setzt ein, in deren Verlauf der Sohn nicht allein ein Bergmassiv, sondern auch Angst und Einsamkeit zu überwinden hat. Wer so tapfer mit den eigenen Dämonen kämpft, muss von den Göttern erhört werden. Ein Kranich geleitet den Jungen in den Himmelspalast zu seiner Mutter. Das Glück der beiden währt jedoch nicht lange. Erneut zürnt der Kaiser, aber diesmal findet sich ein Kompromiss. Einmal im Jahr darf die Mutter auf die Erde, um den Sohn zu besuchen, und zu diesem Anlass backt man runde Mondküchlein. Bekanntlich verheißt uns Menschen alles Runde Tröstung, den Chinesen geht es da nicht anders als den Europäern.
Ein Botschafter des alten China
Chen Jianghong haben die Verwüstungen der Kulturrevolution geprägt, und er sieht auch in der politischen Nachfolge - dem heutigen Regime in Beijing - die Tradition nicht hinreichend geschützt. Deshalb betrachtet er selbst sich als Botschafter der chinesischen Kultur und liefert uns mit jedem seiner Bücher einen weiteren Aspekt. Nach der Malerei und der Oper erzählt er nun vom Herbstfest. Für die Zusammenkunft der Familien werden kleine Kuchen mit Zucker, Mehl und Gewürzen zubereitet, aus deren Aromen die Erinnerung an die Mutter und damit auch an die eigene Kindheit aufsteigt. Nicht allein Marcel Proust wusste um die zauberhafte Wirkung, mit der unser Gaumen verloren geglaubte Gefühle aktiviert.
Auch wenn "Sohn des Himmels" nicht das bedeutendste Buch des Chinesen ist, enthält es doch all jene Merkmale, die die Brillanz dieses Illustrators ausmachen. So wie Chen Jianghong mit dem Motiv von Geschmack und Erinnerung spielt, findet sich in seiner von der chinesischen Malerei beeinflussten Bildauffassung auch stets eine Korrespondenz zwischen Nähe und Ferne. Das Detail, und mit ihm das individuelle Schicksal, unterhält eine Beziehung zum großen Ganzen der Landschaft. Meisterhaft beherrscht er die Dramaturgie der Verkürzung, mitunter benötigt Chen Jianghong für seine Form des Erzählens gar keinen Text. Man sieht, wie die Sehnsucht im Kind wächst und es von ihr in die Ferne gezogen wird, oder wie sich im Kaiser der brodelnde Zorn auf die selbstbewusste Tochter bildet. Zwei Bilder auf einer Doppelseite, mehr braucht Chen Jianghong dafür nicht.
Gesicht als Spiegel der Emotion
Die Farben spielen in den Kompositionen der wildromantischen Landschaften eine wichtige Rolle. Dort, wo die Neugierde entsteht, das Glück und der Friede, überwiegen Rot und Weiß. Wird die Atmosphäre dunkler und nachdenklich, wechselt die Palette zu Grün- und Blautönen. So heizt der Chinese Emotionen an oder kühlt sie ab. Schon als junger Mann - bevor Chen Jianghong seine Zukunft als Künstler im Westen suchte - zeichnete er mit stetigem Fleiß am Bahnhof seiner Geburtsstadt die Gesichter der Passanten. Die Virtuosität seiner Linienführung wirkt immer wieder verblüffend, kaum jemand in Europa vermag so souverän das Gesicht als Spiegel der Emotion einzusetzen. Eigenartigerweise verlieren die Gesichter jedoch in der Ferne und von der Seite an Ausdruckskraft.
Chen Jianghong arbeitet mit Aquarell und Tusche auf Reispapier. Wenn man sieht, wie der Schwung des erfahrenen Kalligrafen den Bildreigen durchzieht, versteht man, dass die Malerei eine Spur der physischen Bewegung ist, die im Bilderbuch eingefroren vor uns liegt. So geben die mächtigen Pinselstriche eine Vorstellung von der Größe der Berge, die der Sohn zu bezwingen hat. Wie im Kino zieht einen der Sog der Geschichte von einer Doppelseite zur nächsten, um vorne gleich wieder zu beginnen. Das Lesen wird zu einer Bewegung, die uns ins ferne China geleitet, in dem wir Menschen begegnen, deren Gefühle uns dann doch nicht fremd sind.
Chen Jianghong: "Sohn des Himmels"
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Moritz Verlag, Frankfurt am Main. 44 Seiten, 18 Euro. Ab 5 Jahren