Donnerstag, 25. April 2024

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Gabriele Gillen: Hartz IV. Eine Abrechnung

Als vor gut einer Woche im sächsischen Landtag die Parlamentarier von der NPD taten, was man von ihnen erwarten musste, nämlich NPD-Politik trieben, war das Entsetzen bei den anderen Parteien groß. Genau so groß war die Hilflosigkeit. Statt darüber nachzudenken, warum die sächsischen Wahlbürger die Rechtsradikalen in den Landtag katapultiert haben, rief die Große Koalition und mit ihr das Berliner Politestablishment nach dem Staatsanwalt und gab sich tief enttäuscht darüber, dass ein neuer Verbotsantrag wenig Aussicht auf Erfolg hat. Hätten sie nachgedacht, dann wären sie darauf gekommen, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung sich von den etablierten Parteien schlicht und einfach nicht mehr vertreten fühlt. Das wiederum hat verschiedene Gründe, einen könnte man als Unbehagen an der Zurichtung für die Globalisierung bezeichnen. In deren Namen fordern Unternehmen ihre weitere Entlastung von Steuern und Sozialkosten, Gehaltsdumping und Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich. Vor allem die zu den Talkkartellen des Fernsehens gehörenden Journalisten finden das prima, und die etablierten Parteien machen sich bereitwillig zu Transmissionsriemen der Helden des shareholder value.

31.01.2005
    Sie verkünden allen Ernstes, dass Lohnverzicht und Mehrarbeit der noch Beschäftigten die Beschäftigungschancen der Arbeitslosen verbessern würden. Die - so scheint es – resignieren, und wenn bei Wahlen keine Alternative zur formierten Ausgrenzungspolitik angeboten wird, dann wollen sie den Stimmzettel wenigstens nutzen, um denen da oben eins auszuwischen. Eine noch so engagierte Streitschrift kann daran nichts ändern, aber wenn Gabriele Gillen in ihrer bei Rowohlt erschienenen Abrechnung mit Hartz IV den Sozialabbau ideologiekritisch und faktengesättigt vom ideologischen Schnickschnack befreit, dann besteht immerhin die Chance, dass sie damit einen Beitrag zur Wahrhaftigkeit in der Politik leistet.
    Karin Beindorff:

    Beitrag Karin Beindorff

    "Deutschland steht das Wasser bis zum Hals", lautet die Botschaft der "Initiative neue Soziale Marktwirtschaft", über deren Anzeigen und Plakate man derzeit überall stolpert. Hinter diesem - gesellschaftliche Verantwortung suggerierenden - Namen verbirgt sich eine von Unternehmern gesponserte Seilschaft der Besserverdienenden. Die Parole vom drohenden Untergang, gebetsmühlenartig in zahllosen Medien wiederholt, soll die Notwendigkeit eines "gesellschaftlichen Umbaus" in die letzten Winkel des Bewusstseins tragen und dem Publikum einbleuen, dass es zur von der rot-grünen Regierung durchgesetzten Politik der Schleifung sozialer Errungenschaften und Rechte keine Alternativen gäbe. Zur selben Zeit liest man in den Zeitungen, die diese Anzeigen veröffentlichen, dass Konzerne so viel verdienen wie nie zuvor. In Deutschland werde 2005 zwar nur ein Wachstum von 0,8 bis 1,8 Prozent erwartet, aber in den Chefetagen der DAX-Konzerne herrsche trotzdem Hochstimmung, denn die Gewinnentwicklung, längst von der Umsatzentwicklung abgekoppelt, berechtige zu den schönsten Hoffnungen. Von einem Profit von 20 Prozent für 2005 ist gar die Rede. Offenbar steht doch nicht ganz Deutschland das Wasser bis zum Hals. Dennoch geht das Trommelfeuer für die Einschnitte ins soziale Netz, für die "schmerzhaften Lösungen", die die angeblich katastrophale Lage des Landes als wirtschaftliches Schlusslicht der Industrienationen erzwinge, unverdrossen weiter:

    Die Alarmsirenen sind mit Hilfe der Warnmelder in den Medien auf Dauerton gestellt, und die Katastrophe lässt eine einzige Therapie zu: die Totaloperation des Sozialstaates. Für das Demokratiegefühl braucht es jetzt nur noch die Generalvollmacht des Volkes. Und durch den grauen Realismus des "Nichts geht mehr" gelähmt, ergibt sich die Mehrheit resigniert in ihr vermeintliches Globalisierungsschicksal: Lohnverzicht und längere Arbeitszeiten, erzwungene Flexibilität und die Senkung der Lohnnebenkosten zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Und am Ende trotzdem Hartz IV.

    Gabriele Gillen versucht gar nicht erst ihren Zorn über die Agitatoren des Neoliberalismus zu verbergen. Ihr Buch ist polemisch, ihre Sprache direkt, ihre Parteinahme für eine Gesellschaft des sozialen Ausgleichs und der Solidarität mit den Schwächeren unverstellt. Ihr ist, wie schon im Titel versprochen wird, nach Abrechnung zumute, nach Abrechnung mit all den Parolen, Halbwahrheiten und gezielten Lügen der ökonomischen Reform-Debatten, nach Abrechnung mit den Profiteuren der neuen, von gesellschaftlichen Fesseln befreiten Marktwirtschaft, deren Einkommen nie dagewesene Zuwachsraten aufweist, während Millionen Arbeitslosen und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen das Fell über die Ohren gezogen wird. Eine Abrechnung nicht zuletzt auch mit den Claqueuren in Parteien und Parlamenten, in Universitäten, Instituten und nicht zuletzt den Medien.

    Das Ziel der Angriffe ist klar: Sie und ich, wir sollen zugerichtet werden für die Zwecke der Wirtschaft. … Wir sollen so flexibel werden wie die Niedriglohn-Jobber in den USA, so arbeitswillig wie die Landarbeiter im Reich der Mitte, so eigenverantwortlich wie die Arbeitssklaven in den Londoner "Sweatshops". Auf diesem Schlachtfeld, auf dem die Agenda 2010 oder Hartz IV nur Etappensiege des großen Kapitals sind, bedeuten Freiheit und Eigenverantwortung den einsamen Kampf von Millionen Einzelnen um einen Arbeitsplatz, um letzte Sicherheiten, um Würde.

    Gabriele Gillen, Redakteurin beim WDR, begnügt sich allerdings nicht damit, offensichtliche Resultate zu kommentieren, sie analysiert Hintergründe, stiftet Zusammenhänge und beleuchtet Interessen. Ihr Buch ist gespickt mit Zahlen und Statistiken, Umfragen, Untersuchungen und Zitaten. Die Lieferanten für das Material ihrer Argumente sind meist ganz unverdächtige Institutionen. Man muss, zeigt die Autorin ihren Journalistenkollegen, nur gründlich in frei zugänglichen Quellen forschen und sammeln, um die Widersprüche der herrschenden Propaganda herauszuarbeiten.

    Sie rechnet genau vor, wie zum Standard erhobene prekäre Arbeitsverhältnisse schöngerechnet werden, wie üppige Gewinne zu Lasten des Steueraufkommens in Verluste verwandelt werden, wie Einkommen durch Arbeit immer schlechter und Einkommen aus Vermögen immer besser gestellt werden, wie aus Entlassungen Gewinne gemacht werden, Gewinne, die der Gesellschaft, die doch ausgebildete Arbeitskräfte und Infrastruktur zur Verfügung stellt, in immer geringerem Masse zugute kommen. Und wie unsachlich die Behauptung ist, nur Wachstum schaffe Arbeitsplätze. Zwischendurch gibt es zur Auflockerung Offene Briefe an diverse Adressaten wie z.B. die deutsche Wirtschaft und ihre hochbezahlten Führungskräfte:

    Übrigens, liebe deutsche Manager, gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Gallup hat die Unternehmensberatung Proudfood Consulting herausgefunden, dass in Deutschland pro Jahr und Beschäftigtem 74 Tage einzig und allein für die Katz gearbeitet wird. … Weil Sie, liebe deutsche Manager, schlecht organisieren, zu lax kontrollieren oder unverständliche Anweisungen geben. Und weil Sie falsche Entscheidungen treffen. Für die Volkswirtschaft bedeutet das einen Verlust von 157 Milliarden Euro im Jahr. … So viel Urlaubsgeld oder Sonntagszuschläge können Sie doch gar nicht streichen, wie Sie da verschwenden.

    Hartz IV, so die Erkenntnis der Autorin, steht für eine Politik, die in voller Absicht Armut als soziale Bedingung produziert, um Menschen gefügig und erpressbar zu machen. Von den im Bundestag vertretenen Parteien, die sich allwöchentlich mit immer denselben Unternehmervertretern und "Experten" des Umbaus in den Fernsehtalkshows von der Alternativlosigkeit des Privatisierens von allem und jedem überzeugen, erwartet die Autorin nichts. Sie sieht eine Gefahr für jede demokratische Gesellschaft in dem Umstand, dass die vom Markt ausgesonderten Menschen und alle, die mehr und mehr vom Abstieg in Hartz IV bedroht sind, keine politische Vertretung mehr haben, eine Gefahr für jede demokratische Gesellschaft. Die Verteidigung des Sozialstaates sei die Verteidigung der Demokratie:

    Die Verträge der Welthandelsorganisation (WTO), die weitere Privatisierungen der sozialstaatlichen Einrichtungen vorsehen, müssen revidiert werden. Kapital und Patentbesitzer müssen gemeinsam gezwungen werden, einen bedeutenden Teil der ihnen derzeit allein zuwachsenden Wertschöpfung wieder zur Finanzierung des öffentlichen Reichtums einzusetzen. … Europa braucht ein Grundgesetz, in dem unkündbar die soziale Demokratie festgelegt wird.

    Wer ein solches Programm politisch durchsetzen könnte, darauf weiß natürlich auch Gabriele Gillen keine Antwort. Fürs erste wäre mit ihrem Buch allerdings schon etwas erreicht, wenn die Apologeten des schrankenlosen Marktes sich öffentlich und regelmäßig mit den Argumenten ihrer schärfsten Kritiker auseinandersetzen müssten. Insofern kann man Gillens "Abrechnung" auch als einen Appell an die Journalisten-Kollegen lesen, das Mäntelchen weniger nach dem Wind zu hängen und den Wasserstand genauer zu überprüfen, bevor die Behauptung, "Deutschland steht das Wasser bis zum Hals", als Tatsache kolportiert wird.

    Karin Beindorff über: Gabriele Gillen: Hartz IV, Eine Abrechnung. Das Taschenbuch ist im Rowohlt Verlag in Reinbek erschienen, 253 Seiten, 7,90 Euro.