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Gabriele Münter im Lenbachhaus
Posthum befreit vom Blauen Reiter

Gabriele Münter wurde nicht zuletzt wegen ihrer Zugehörigkeit zur Künstlergruppe des Blauen Reiters bekannt. Eine große Werkschau im Münchener Lenbachhaus zeigt jetzt die schöpferische Kraft der Künstlerin und befreit sie so aus dem Korsett einer eindimensionalen Rezeption.

Von Julian Ignatowitsch | 30.10.2017
    Die Malerin Gabriele Münter, langjährige Lebensgefährtin ihres Kollegen Kandinsky und Mitglied der bedeutenden Künstlergruppe Blaue Reiter, in ihrem Haus und Atelier in Murnau vor einem ihrer Gemälde (undatiert). Sie wurde am 19. Februar 1877 in Berlin geboren und verstarb am 19. Mai 1962 in Murnau.
    "Was an der Wirklichkeit ausdrucksvoll ist, hole ich heraus": Gabriele Münter in ihrem Haus und Atelier in Murnau (picture-alliance / dpa / Georg Göbel)
    Das Bild hat Symbolcharakter: Da sind Gabriele Münter, ihr Mann Wassily Kandinsky, ihre Freundin Marianne von Werefkin und Andreas Jawlensky, der Sohn von Alexej Jawlensky, zusammen bei einer Kahnfahrt zu sehen. Hinter ihnen die Alpen und unter Ihnen der See. Ein Ausflug unter Künstlern. Kandinsky steht aufrecht, stolz, patriarchal im Bildmittelpunkt und Münter, sitzend, kehrt dem Betrachter im unteren Bilddrittel den Rücken zu. Das Gemälde, gemalt von Gabriele Münter selbst, sagt heute viel über die posthume Rezeption des Blauen Reiters aus, bei der die Männer, insbesondere Kandinsky, die Frauen in Ansehen, Sichtbarkeit, Preis und vermeintlicher Könnerschaft stets überragt haben (und das immer noch tun).
    Entdeckung der künstlerischen Eigenständigkeit
    Doch das ändert sich gerade - auch mit und dank dieser Ausstellung in München, die die Künstlerin Gabriele Münter abseits der vorherrschenden Klischees und biografischen Kolportagen zeigt. Kuratorin Isabelle Jansen über das zentrale Anliegen einer umfassenden Retroperspektive:
    "Sie zu befreien, weil diese Blaue Reiter-Zeit ist von 1911 bis 1914. Und Gabriele Münter hat bis 1962 gelebt und gemalt. Viel gemalt und gut gemalt. Das wollen wir zeigen: diese schöpferische Kraft von Gabriele Münter."
    Das Münter-Haus in Murnau (Bayern). In diesem Haus, auch "Russenhaus" genannt, lebten die Künstler Gabriele Münter (1877-1962) und Wassily Kandinsky (1866-1944) in den Sommermonaten von 1909-1914. Hier entstanden Werke und Ideen, die als Kunst des "Blauen Reiter" berühmt wurden, heute ist es ein beliebtes Ausflugsziel.
    Das Münter-Haus in Murnau, Bayern. In den Sommermonaten von 1909-1914 lebte Münter hier mit Wassily Kandinsky. Hier entstanden Werke und Ideen, die als Kunst des "Blauen Reiter" berühmt wurden. (dpa/ Felix Hörhager)
    Sie war eben nicht nur - und sowieso nur für ein paar Jahre - die Frau an Kandinskys Seite. Ja, in einigen Bildern taucht er dann natürlich doch auf, der eitle Professor, am Teetisch oder im Schlafzimmer, aber das sind die bekannteren und langweiligeren Motive in dieser umfassenden Werkschau.
    Scheinbar naiv - und doch genauestens konzipiert
    Neues, Überraschendes gibt es gleich im ersten der zehn Kapitel, an denen sich die Ausstellung thematisch orientiert, zu entdecken: Fotografien aus den Jahren 1899/1900, als Münter, damals 22 Jahre jung, mit ihrer Schwester Emmy nach dem Verlust der Eltern alleine durch die USA reiste: Die Farm der Tante in Texas, ein kleines Mädchen auf der Straße in Missouri oder die Heuernte in Arkansas - all das ist auf den Fotos zu sehen.
    Isabelle Jansen: "In diesen Fotografien finden sich sehr viele Themen und die Herangehensweise an Motive, die später in ihrer Malerei zu finden sein werden. Dass Münter die Welt wie durch einen Apparat wahrgenommen hat und sich später auch für das Kino interessiert, das passt alles sehr gut zusammen."
    Ihre Kinoleidenschaft für Filme wie Charlie Chaplins "Der Zirkus" oder Zarah Leanders "Es war eine rauschende Ballnacht" dokumentiert die Ausstellung mit entsprechenden Filmsequenzen. Der naheliegendste Zusammenhang zu ihrer Malerei liegt wohl darin, dass Münters Bilder von grünen Wiesen, Bergen und Tälern, bunten Blumen und erdigen Bauernhäusern immer sehr spontan, manchmal fast naiv wirken, aber doch genauestens konzipiert sind. Und damals wie heute treffen sie den breiten Publikumsgeschmack, was manche Kritiker lieber als Schwäche denn als Stärke deuten. In Münters eigenen Worten:
    "Was an der Wirklichkeit ausdrucksvoll ist, hole ich heraus, stelle ich einfach dar, ohne Umschweife, ohne Drum und Dran."
    Münter hält die Ruder in der Hand
    Die Ausstellung geht noch einen Schritt weiter - und darin liegt ihr großer Erkenntnisgewinn. Bilder aus den 20er, 30er und 50er Jahren zeigen eine nahezu unbekannte Seite der Künstlerin: In ihrer Heimat Murnau bildet sie Bagger, Bau- und Feldarbeiter mit kühlem Blick bei der Arbeit ab. In Paris illustriert sie mit klarem Strich das Seine-Ufer und die Villa les Fleurettes. Stillleben aus den 20er Jahren erinnern an Cézanne, Porträts von Schlafenden aus den 30ern an Gauguin und Abstraktionen aus den 50ern lenken den Blick ganz auf Form und Farbe.
    Münter war sicher keine avantgardistische Künstlerin, verfasste keine Kunstmanifeste und provozierte nicht mit neuen Ideen, aber sie kannte zeitgenössische Theorien und Haltungen, war weit gereist und vermischte dieses Wissen zu einer eigenen Bildsprache.
    Und gleichzeitig war sie eine geschickte Verwalterin und Promoterin des eigenen Werks. Münter stellte zu Lebzeiten auf der ersten Documenta und der XXV. Biennale aus. Mit der Schenkung von über 1.000 Werken des Blauen Reiters an das Lenbachhaus sicherte sie auch ihr eigenes Andenken - und könnte dafür bald auch international die angemessene Anerkennung erhalten. Die Ausstellung wandert anschließend nach Dänemark, auch in Frankreich wird man verstärkt auf ihr Werk aufmerksam.
    Insofern passt auch die Pointe der gemalten (und eingangs geschilderten) Kahnfahrt: Gabriele Münter hält dort nämlich die Ruder in der Hand und die Blicke der anderen Bootsinsassen haften fest auf ihr.