Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Gadhafi lässt bitten

Stünde der Begriff nicht im Ruf biedermeierlicher Genügsamkeit, müßte man diese Erzählung einer Reise eine Humoreske nennen. Sie beginnt im Jahr 1989 mit dem Anruf des libyschen Botschafters in Bonn bei der Vorsitzenden der deutsch-libyschen Freundschaftsgesellschaft in Bochum und dessen Frage: "Wissen Sie schon, dass Sie morgen nach Libyen fliegen?". Eine Feier im Zusammenhang mit dem zwanzigsten Jahrestag der Großen Revolution werde stattfinden. Auch seien vier Mitreisende erwünscht, deren Namen er innerhalb der nächsten Stunde erbitte, der Tickets wegen. Am Ende der Reise trägt die Vorsitzende der Gesellschaft, Renate Eisel, die höchsten Orden der Volksrepublik Libyen - Orden aus reinem Gold - , und der Autor stellt Fragen:

Agnes Hüfner | 03.09.2002
    Hätten wir all dies Blaue vom Himmel heruntergelogen, wenn es nie geschehen wäre? Träumten wir nur davon zurückzukehren? Und war es eine Halluzination, oder haben wir mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört, wie der Kapitän von Libyan Arab Airlines, als wir die Maschine verließen, sich vor Renate verbeugte und sagte: "See you next time in Tripolis?

    Christof Wackernagel erzählt, zunächst im Stil einer Reportage, wer die Teilnehmer der Delegation aus der Bundesrepublik sind, wie sie und von wem in Tripolis empfangen werden, er beschreibt die Unterkunft im besten Hotel der Stadt, den Weiterflug nach Sirt, dem Geburtsort des großen Obersten und Bruders Muammar al-Gadhafi, wo die fünf Deutschen gemeinsam mit vierhundert anderen Gästen aus der arabischen und ferneren Welt in einem neuen Hotel- und Kongreßzentrum Stunden um Stunden in Unkenntnis dessen, was sie erwartet, verbringen. Es handelt sich, wie im nachhinein zu erfahren, um die soeben ins Leben gerufene Feier zum "Tag der Treue".

    Die Beschreibung dieses vom späten Nachmittag bis in den frühen Morgen dauernden maßlosen Ereignisses steht im Zentrum der Erzählung. "Incredible, realy incredible", murmelt der entnervte Literaturprofessor aus Malta, angesichts der Berge hin und her geschleppter Kästen mit den Orden, der Stapel Ordensdokumente, der Blaskapelle, die sich erhebt und wieder setzt, bis kurz vor Mitternacht Gadhafi auftritt, "der große Intendant", wie es heißt, "im blauen Anzug unter einem schwarzen Seidenumhang mit Goldbesatz, original Sankt Pauli". Und dann beginnt die Auszeichnung der Gefährten im Kampf gegen den Imperialismus, die unterschiedslos Anwesende und Abwesende, Lebende und Tote trifft.

    Fast vier Uhr nachts war es inzwischen, und der letzte Ton war noch nicht verklungen, da begann der nächste Vorleser schon wieder mit der Litanei weiterer Namen, mit langen Würdigungen und unverdrossenem Klatschen garniert. - Plötzlich sprang Rosie Douglas auf, winkte, nahm Applaus entgegen, ballte die Faust, wir setzten die Kopfhörer auf, Internationale waren dran, ein weiterer Kampfgenosse aus der Karibik, aus Ghana der nächste, der Turbanmann stand auf, dankte - er war ein Mufti aus der Sowjetunion. Alfred Mechtersheimer war unzweideutig zu verstehen, er selbst aber nirgends zu sehen, noch ein Name, unverständlich.... Fast gleichzeitig schnellte neben mir Maltas geduldigster Literaturprofessor empor, rückte sein Jackett zurecht, schloß den vordersten Knopf und schritt erhobenen Hauptes auf den Tisch Gadhafis zu.

    Je näher der Erzähler dem Festakt zum "Tag der Treue" kommt, umso schneller scheint er den Boden der Realität zu verlassen. Der gediegene Reportageton des Anfangs verschwindet, das Tempo zieht an, die Situationsbescheibungen rücken wie im slapstick eng aneinander, die Sprache wird spielerischer und knalliger, immer seltener gliedern Abschnitte den Fluß des Textes. Die Suada scheint kein Ende nehmen zu wollen. Die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmt.

    Der Inhalt war ja der, wir gehen dahin, alles klar. Und diese Klarheit löst sich auf. Man weiß nicht mehr, was los ist und wie einem geschieht. ... Wieviel Stunden sind eigentlich vergangen? Was ist jetzt los? Habe ich Hunger oder nicht? Was ist jetzt echt, was nicht, was ist daran echt? Das ist Surrealismus pur. Also, das kann man sich nicht ausdenken.

    Wackernagel beschreibt die Bigotterie des Festaktes, die Faszination, die von ihm ausgeht, und das Vergnügen daran. Er schildert wie die Teilnehmer, die Vorleser unterbrechen und korrigieren, wenn sie Namen falsch aussprechen oder die Verdienste der zu Ehrenden nicht alle parat haben. Ein Mitmachtheater, dessen Zauber sich auch der auf Distanz bedachte Erzähler und seine Freunde nicht entziehen. Renate etwa, eben noch über diesen Feudalsozialismus empört, fällt dem Wirklichkeitsverlust anheim. Sie antwortet Jallud, dem Stellvertreter Gadhafis, "dass auch der Fortschritt in den Metropolen, zum Beispiel in der Bundesrepublik, von den Erfolgen der libyschen Revolution abhängig sei. We try to do our best.

    In die satirisch zugespitzte Nacherzählung hinein plaziert der Autor Reiseführer-Geschichten über Land und Leute, erzählt Anekdoten über Gadhafi, schwimmende Kamele, den tunesischen Kellner, der in Köln gearbeitet hat und sich wundert, dass die Deutschen das Geburtsdatum von Willy Millowitsch nicht kennen.

    Das sind alles Geschichten, die ich gesammelt hatte, erzählt bekommen hatte und die ich dann dramaturgisch verknüpft hatte ... filmartig gegen geschnitten ... Zum Teil habe ich mich auch bemüht, Informationen über das Land, unterschwellig, auf Unterhaltungsebene - das ist ein weiß Fleck auf der Landkarte - das ist nur immer: Libyen, o Gott, Terrorismus und der Gadhafi, der spinnt und so - aber, dass dort Menschen leben in einer uralten Tradition, dass ganz Nordafrika früher Libyen hieß, dass es eine berberische Tradition hat, dass es eines der gastfreundlichsten Länder der Welt ist, weil es keinen Tourismus gibt, diese Dinge - unabhängig von irgendeinem momentan herrschenden Diktator.

    Lustig sind die meisten dieser Geschichten, nett die Menschen dort - wenngleich die mangelnde Emanzipation der Frauen dem Autor ins Auge sticht. Charmant, nennt Wackernagel die Widersprüche, plaudert und verirrt sich von Fall zu Fall in Parteilichkeit.

    Dann habe ich nicht die Distanz und schon gar nicht die ironische. Das kann gut sein. Sicher, habe ich immer die andere als positiv dargestellt, ist richtig. Die andere positiv, und unsere ist immer schlecht. Richtig. Die anderen sind immer blumig, wir sind betoniert. Ja, ja, ja. Okay.

    Die Reise liegt lange zurück. Seit Anfang der 90er Jahre ruhte das Manuskript in der Schublade, obwohl der Freund Günter Herburger sich bei Verlagen dafür verwandte. Mal sagten die ab, mal zog der Autor das Manuskript zurück. Die Vorstellung eines Verlags aus dem Ruhrgebiet, er müsse die Achse Tripolis-Bochum stärker heraus arbeiten, mochte er nicht teilen. Christof Wackernagel schrieb weiter, Erzählungen, ein harsches Stück über die deutsche Wende, Essais. Und nun?

    Ich habe ein Projekt, an dem ich schon über fünfzehn Jahre arbeite, das auf drei Ebenen läuft, eine Traumebene, eine traumatisierte, komaartig, jemand, der im Koma liegt und reflektiert, und eine dritte Ebene, die Perspektive eines Toten, der die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland von 1979 bis jetzt aus der Perspektive des Toten betrachtet. Das ist ein Riesenprojekt, an dem ich schon lange arbeite. Und das ist mein Hauptprojekt, von dem es auch unklar ist, ob es auch druck- oder überhaupt veröffentlichbar ist.