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Gaël Faye: "Kleines Land"
Vom Paradies in die Hölle

Der Musiker Gaël Faye erzählt in seinem Romandebüt "Kleines Land" von seiner Heimat Burundi. Der junge Gaby muss sich im Laufe seines Heranwachsens eingestehen, dass in seinem Land Krieg herrscht: Kumpels ziehen in den Kampf gegen Feinde, von denen sie bis vor kurzem nicht wussten, dass es sie gibt.

Von Dina Netz | 18.01.2018
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    Gaël Fayes Roman "Kleines Land" erhielt in Frankreich den Prix Goncourt des Lycéens. (Foto: dpa, Coverabbildung: Piper-Verlag)
    Das kleine ostafrikanische Land Burundi steht auf der Rangliste der Pressefreiheit auf einem der letzten Plätze weltweit, außergerichtliche Hinrichtungen und Folter sind an der Tagesordnung, viele Menschen fliehen in die Nachbarländer. Dieses reale Land der 2010er Jahre hat nichts gemein mit dem Burundi, das Gaël Faye beschreibt. Faye erzählt von einem Paradies: Die Kindheit seines Protagonisten Gaby ist ein wärmender Kokon, in den die Bedrohungen der Außenwelt – zunächst - nicht eindringen können.
    "Kleines Land" spielt Anfang der 90er Jahren in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Gabys Familie aus einer ruandischen Mutter, einem französischen Vater und einer Schwester ist intakt. Genau wie das soziale Umfeld des Zehnjährigen - die Nachmittage verbringt Gaby mit seinen Kumpels:
    "Wir fünf Freunde stritten die ganze Zeit, aber eigentlich liebten wir einander wie Brüder, da gab es nichts. Nach dem Mittagessen flitzten wir immer gleich zu unserem Hauptquartier, einem VW-Bus, der verlassen auf einer Brache stand. In dem Wrack redeten wir, lachten, rauchten heimlich Supermatch, hörten uns Ginos unglaubliche Geschichten und die Witze der Zwillinge an, und Armand zeigte uns die irrsten Sachen, die er konnte, zum Beispiel die Lider umklappen, dass man die Innenseite sah, die Zunge bis zur Nasenspitze rausstrecken oder den Daumen zurückbiegen, bis er den Arm berührte, Flaschen mit den Zähnen öffnen oder in Pili-Pili beißen und es schlucken, ohne das Gesicht zu verziehen."
    Fragen von Rassenzugehörigkeit
    Der größte Wunsch der Freunde sind Markenturnschuhe. Doch irgendwann verdunkelt sich die Sonne, die zunächst permanent über diesem Kindheitsparadies zu strahlen scheint. Den Anfang macht ein innerfamiliärer Vorfall, die Trennung von Gabys Eltern. Doch schon dabei spielen Fragen von Rassenzugehörigkeit eine Rolle.
    Nach diesem ersten Riss bekommt der Kindheitskokon schnell weitere. Auch Gaby, der lange vor der politischen Lage im Land die Augen verschlossen hat, muss sich eingestehen, dass Krieg herrscht. Die Kriegsparteien sind, wie im benachbarten Ruanda, die Volksgruppen Hutu und Tutsi. Gabys halbwüchsige Kumpels ziehen in den Kampf gegen Feinde, von denen sie bis kurz zuvor gar nicht wussten, dass es sie gibt.
    "Mein Freund Gino, der Angst vor den Buschspinnen hatte, die wir in seinem Garten fingen, und der sich flach auf den Bauch schmiss, wenn in der Ferne ein Gewitter grollte, ausgerechnet Gino wollte sich mit einer Kalaschnikow, die größer war als er selbst, im Nebel der Virunga-Berge der Guerilla anschließen."
    Gaby sträubt sich lange gegen das Eindringen der Politik in seine Kindheit. Offenbar ist ihm unbewusst klar, dass der Krieg das Ende seines Paradieses bedeutet. Der fanatische Taumel, der fast alle um ihn herum ergreift, lässt ihn kalt. Er bewahrt sich möglichst lange seine kindliche Naivität, die ihn allerdings berechtigte Fragen stellen lässt. Zum Beispiel will er von seinem Vater wissen, warum denn nur aus Freunden urplötzlich Feinde werden:
    "Kommt der Krieg zwischen Tutsi und Hutu daher, dass sie in verschiedenen Gegenden wohnen?
    Nein, sie leben ja im selben Land.
    Dann sprechen sie nicht dieselbe Sprache?
    Doch, sie sprechen dieselbe Sprache.
    Vielleicht haben sie nicht denselben Gott?
    Doch, sie haben denselben Gott.
    Aber... warum machen sie dann Krieg?
    Weil sie nicht die gleiche Nase haben."
    Was Gabys Vater als Scherz gemeint hat, wird später zur absurden Wahrheit des Krieges.
    Straßenjargon gemischt mit bildhaften Betrachtungen
    Fayes autobiografisch geprägtes Buch unterscheidet sich von anderen Kriegsromanen dadurch, dass er konsequent aus der Sicht des Heranwachsenden erzählt, immer auf Augenhöhe mit dem Kind, das seine Welt nicht mehr versteht. Die Welt, in der vorher ganz verschiedene Völker, Hutu, Tutsi, aber auch Europäer und Migranten aus anderen afrikanischen Ländern, ziemlich friedlich zusammengelebt hatten. Und in der der eigentliche Graben zwischen Arm und Reich verlief.
    Faye mischt den Straßenjargon der Jugendlichen mit bildhaften Betrachtungen zu einer authentischen Erzählung über eine Kindheit im Krieg. Die kurzen, einfachen Sätze und die spürbare Empathie für die Hauptfigur machen "Kleines Land" besonders eindringlich.
    In der Rahmenhandlung des Romans erzählt Faye von Gabys späterem Leben in Frankreich. Er ist ruhelos, seit 20 Jahren besessen von der Idee, nach Burundi heimzukehren. Am Schluss kehrt er tatsächlich zurück und findet unverhofft Erlösung. Diese wiederum sehr komplexe Rahmengeschichte würde sich allerdings eher als Stoff für einen eigenen Roman eignen. Vielleicht ja für Gaël Fayes nächsten, denn mit "Kleines Land" beweist er, dass er nicht nur Songtexte schreiben kann, sondern auch über den langen Atem für die große Form verfügt. Und er macht auf erschütternde Weise nachvollziehbar, wie innerhalb kürzester Zeit aus einem idyllischen Kindheitsparadies die Hölle werden konnte, die Burundi bis heute ist.