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Gartenbau
Warum Wildsamen ein Luxusgut sind

Ohne Pflanzenvielfalt keine Insektenvielfalt, ohne Insektenvielfalt keine Kirschen, Äpfel oder Erdbeeren. Damit das so bleibt, sammelt und vermehrt der baden-württembergische Bauer Ernst Rieger seit 30 Jahren Wildsamen und Gräser. Ein langwieriger Prozess, der seinen Preis hat.

Von Klaus Betz | 07.04.2017
    Eine Blumenwiese in Saint-Christophe in der Normandie (Frankreich)
    Ernst Rieger sammelt und vermehrt den Wildwuchs der Natur. (picture alliance / Franz-Peter Tschauner)
    Ernst Rieger ist kein klassischer Züchter von Wildsamen. Sondern er sammelt und vermehrt den Wildwuchs der Natur: "Los geht’s eigentlich hier, im Gewächshaus. Wir sammeln in den freien Landschaft ein paar Gramm Samen. Manches Gramm sind 10.000 bis 15.000 Körner, und das geht ins Gewächshaus, wird ausgesät in Ansaatschalen und dann pikiert. Und dann geht’s erst auf den Acker. Denn des Ausgangsmaterial, was wir brauchen, des Ursprüngliche, kann man in der ganzen Welt nicht kaufen. Wir können des nur selber produzieren, indem wir des Ausgangsmaterial in der freien Landschaft holen, und zwar dort, wo noch nix versaut ist."
    Jedes Jahr produziert Rieger mit seinem Familienbetrieb auf 1.400 Vermehrungsflächen in ganz Deutschland rund 100 Tonnen des gefragten Wildwuchses – bei einem Umsatz von fünf Millionen Euro. Mit 30 Mitarbeitern und 60 Vertragsanbauern sichert er so den Fortbestand von ursprünglichem Saatgut. Sein Motiv: "Heute geht's ums Ganze. Es geht um die menschliche Ernährung und um die menschliche Existenz; es geht um Äpfel, Birnen, Kirschen, Erbeeren, Raps, Buchweizen und so weiter, weil das sind ja alles Befruchter, also des sind alles Pflanzen, die von Insekten befruchtet werden müssen. Das ist genetisch und von der Natur festgelegt, da kann keiner was ändern."
    Vier Jahre bis zum Verkauf
    Wildblumen und Wildgräser zu vermehren, ist ein langwieriger und schwieriger Prozess. Zwischen dem Sammeln, dem Aussähen und Ernten bis zum Verkaufen können drei oder vier Jahre liegen. Viel Erfahrungswissen und viel Handarbeit sind nötig. "Wir arbeiten von 100 Arbeitsstunden pro Hektar bis zu 3.000 Arbeitsstunden pro Hektar. Deshalb kostet manches Saatgut auch über 1.000 Euro das Kilo. Gänseblümchen zum Beispiel 1.500 Euro das Kilo. Denkt jeder, ja das gibt’s doch überall, habe ich auch in meinem Garten. Ja sag' ich, her damit – dann krieg ich nix."
    Die bundesdeutsche Naturschutzgesetzgebung schreibt bei Renaturierungs- und Ausgleichsmaßnahmen den Einsatz von "gebietseigenem Saatgut" vor. Aber woher soll man all die biotoptypischen Wildblumen, Gräser und Hülsenfrüchte nehmen, und in welcher Mischung?, fragen sich Deichbauer, Autobahnplaner, Bergwerksingenieure und Landschaftsgärtner.
    Samen so weich "wie der Sand auf Hawaii"
    Sie alle wenden sich an Ernst Rieger, der im hohenlohischen Blaufelden, im nordöstlichen Baden-Württemberg, sein Zentrum für die Wildsamenvermehrung aufgebaut hat. "Braunwurz sehe ich hier, Weiße Lichtnelke, Wilde Malve, Moschusmalve – und hier haben wir Bergsandglöckchen, was ganz Feines. Da sind 15.000 Korn ein Gramm. Und jetzt halten wir das mal ans Licht und dann sieht man, was das für ein feiner Samen ist, der ist samtweich, das ist ein Gefühl – wie der Sand auf Hawaii."
    Regelmäßig ist Rieger in Deutschland und in den europäischen Nachbarländern unterwegs, um seine Erfahrungen und sein Wissen weiterzugeben. "Des Know-how verschenke ich, das meiste. Damit’s besser wird und schneller geht." Außerdem liegt es ihm fern, den ganzen großen Profit anzustreben und seine so erfolgreichen Vermehrungsmethoden patentieren zu lassen. Rieger ist überzeugt, im Konflikt könne er auch Großkonzernen Paroli bieten. "Auf diese ganzen Pflanzen gibt's keine Patente. Das darf gar nicht sein und das darf nie sein. Es muss jeder jederzeit Zugang haben. Wir haben entsprechend Kontakte in alle Welt und wenn da irgend so was aufkommen würde, könnten wir schon dagegen halten."
    Jedes Samenkorn hat einen ortstypischen Fingerabdruck
    In der 2.000 Quadratmeter großen Versandhalle neben den Gewächshäusern lagert tonnenweise der gereinigte Wildsamen in großen Säcken. Getrennt nach acht verschiedenen Produktionsräumen. So wird garantiert, dass Wildsamen aus dem "nordwestdeutschen Tiefland" nicht an einen Besteller aus dem "süddeutschen Berg- und Hügelland" ausgeliefert wird und umgekehrt.
    Andernfalls wäre der Vermehrungserfolg gefährdet. Der Grund: Jedes Samenkorn bringt einen ortstypischen Fingerabdruck mit und muss daher wieder unter den dazu passenden Witterungs- und Bodenverhältnissen ausgesät werden. Also gibt es – entsprechend den acht Herkunftsregionen – acht Mal Gänseblümchen und acht Mal Kornblumen.