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Gasdanows "Ein Abend bei Claire"
Erinnerungen an das "alte Russland"

Vor zwei Jahren sorgte die deutsche Übersetzung von Gaito Gasdanows Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" für Lobeshymnen der Kritiker. Nun ist ein weiteres Werk des 1971 verstobenen russischen Autors erschienen. "Ein Abend bei Claire" besticht weniger durch einen spektakulären Plot oder grandiose Schauplätze, vielmehr aber durch einen ganz eigenen Zauber.

Von Brigitte van Kann | 23.01.2015
    Der Kreml an den Ufern der Moskwa in Moskau.
    Alles in diesem Buch ist Erinnerung an das für immer verlorene Russland, das Gaito Gasdanow wie sein junger Protagonist Kolja Anfang der 1920er-Jahre verlassen musste. (dpa picture alliance / Matthias Toedt)
    Wer das "Phantom des Alexander Wolf" großartig fand und sich auf den nächsten der insgesamt neun Romane Gasdanows gefreut hatte, sei gewarnt: Was die Leser des "Phantoms" so faszinierte, das werden sie in "Abend bei Claire" nicht finden: keinen spektakulären Plot, keine grandiosen Schauplätze, nicht das Räderwerk des Zufalls, dem man dabei zuschauen konnte, wie Schicksale gemacht werden.
    Dafür wartet "Ein Abend bei Claire" mit einem ganz eigenen Zauber auf, der den Roman zum Liebling der russischen Leserschaft Gasdanows macht und auch das deutschsprachige Publikum nicht kaltlassen wird: Alles in diesem Buch ist Erinnerung an das für immer verlorene Russland, das Gaito Gasdanow wie sein junger Protagonist Kolja nach dem Sieg der Roten im Bürgerkrieg Anfang der 1920er-Jahre verlassen musste. Mit letzter Not erreicht der Held im Hafen des lichterloh brennenden Feodossija auf der Krim einen rettenden Dampfer, beladen mit Getreide und Flüchtlingen.
    "Zum Läuten der Schiffsglocke fuhren wir gen Konstantinopel; und noch auf dem Dampfer begann ich eine andere Existenz zu führen, in der all mein Trachten und Sinnen auf meine zukünftige Begegnung mit Claire gerichtet war, in Frankreich, wohin ich aus dem altehrwürdigen Stambul fahren würde. (...) Wieder nahm ihr unerreichbarer Körper, noch unerreichbarer denn je, auf dem Heck des Dampfers vor mir Gestalt an, zwischen den schlafenden Menschen, dem Geschütz und den Säcken. Doch nun hatte sich der Himmel mit Wolken überzogen, die Sterne waren nicht mehr sichtbar; und wir fuhren durch die Meeresdüsternis zu der unsichtbaren Stadt; hinter uns in der Luft klafften Schlünde; und ab und zu schlug in der feuchten Stille dieser Reise die Glocke – und dieser Ton, der uns ständig begleitete, nur dieser Glockenton verband dank seiner langsamen, gläsernen Durchsichtigkeit die Feuergefilde und das Wasser, die mich von Russland trennten, mit dem stammelnden und sich verhaspelnden, mit dem wunderbaren Traum von Claire."
    Den Autor selbst interessiert die Zukunft seiner Liebenden nicht
    Mit dem Abschied von Russland und der Hoffnung, Claire wiederzusehen, endet der Roman. Er beginnt in Paris, in Claires Wohnung, mit der lapidaren Mitteilung: "Claire war krank; ganze Abende saß ich bei ihr." Als die Angebetete wieder gesund ist, ergreift sie die Initiative und schenkt ihrem jungen Verehrer eine erste Liebesnacht. Der Traum, der den Helden zehn lange Jahre verfolgte, ist wahr geworden. Erfahrene Leser mögen sich ausmalen, dass diesem Glück wenig Dauer beschieden ist – den Autor selbst interessiert die Zukunft seiner Liebenden nicht: für ihn ist die Liebesnacht mit Claire nur dazu da, seinen Helden Kolja in Gedanken nach Russland zurückkehren zu lassen, in seine Kindheit und Jugend, in den Bürgerkrieg, in den der junge Mann mit 16 gezogen ist.
    "Ich lag neben Claire und konnte nicht einschlafen; und als ich den Blick von ihrem blass gewordenen Gesicht abwandte, entdeckte ich, dass das Blau der Tapeten in Claires Zimmer mir auf einmal heller und merkwürdig verändert vorkam. (...) Lichtblaue Phantome mit abgehackten Händen saßen in den beiden Sesseln, die im Zimmer standen. (...) Die lila Tapetenbordüre hatte sich zu einer Wellenlinie verzogen, gleichsam zum kartographischen Zeichen für den Weg, den ein Fisch in einem unbekannten Meer zurücklegt; (...) Ich dachte an die Abende, die ich bei Claire verbracht hatte, und nach und nach kam mir alles in den Sinn, was ihnen vorausgegangen war; und mich bedrückte, wie unmöglich es war, das alles zu begreifen und in Worte zu kleiden."
    Von dem, was vor den Abenden bei Claire geschah, handelt Gasdanows Buch. Und es ist ihm sehr wohl gelungen, "das alles in Worte zu kleiden". Die Übersetzerin Rosemarie Tietze weist in ihrem lesenswerten Nachwort darauf hin, dass Vieles in diesem Roman autobiografisch grundiert ist: Wie sein Ich-Erzähler Kolja kam auch Gaito Gasdanow 1903 in St. Petersburg zur Welt, auch er verlor früh seinen Vater und seine beiden Schwestern, auch er zog mit 16 auf Seiten der Weißen Armee in den Bürgerkrieg und hat die Mutter nach seiner Flucht aus Russland nie mehr wiedergesehen.
    "Ein Abend bei Claire" ist Gasdanows erster Roman, 20 Jahre vor dem "Phantom des Alexander Wolf" entstanden. Als er 1930 in Paris erschien, machte er seinen Autor schlagartig in Frankreichs russischen Exilkreisen bekannt. Doch der Erfolg blieb ihm nicht treu, und so lebte der Schriftsteller Gasdanow weiterhin unter prekären Umständen als Taxifahrer, wie so viele russische Emigranten in Paris. Erst in den 50er-Jahren ging es ihm materiell besser, als er eine Stelle bei Radio Liberty in München bekam. In München ist Gasdanow auch 1971 gestorben.
    Erinnerung – ein Thema, das überlebensnotwendig für die russischen Schriftsteller im Exil gewesen sein muss. Viele von ihnen beschworen in ihrem Werk Kindheit und Jugendzeit, das alte Russland mit seiner Weite und seinen klimatischen Extremen: der gestrenge und solitäre Vladimir Nabokov, vier Jahre älter als Gasdanow, ebenso wie Ivan Bunin, der Russland als gestandener Schriftsteller im Alter von 50 Jahren verlassen musste und 1933 als erster Russe und überdies als erster Schriftsteller im Exil den Nobelpreis für Literatur bekam.
    Wenn es etwas gibt, wo man Gaito Gasdanow nicht ganz folgen mag, so sind es die psychischen Eigenheiten und Defekte, mit denen er seinen Helden ausstattet: sein Unvermögen, Traum und Realität zu unterscheiden, seine verlangsamte seelische Reaktion, seine Unfähigkeit zur Gemeinschaft. Der Autor braucht sie, um sein literarisches Verfahren der traumartigen Erinnerung zu motivieren. Für den Leser bleiben sie Behauptung, Zutaten zu einer Hauptfigur, die ansonsten ja einen ganz vitalen Eindruck macht.
    Das Fehlen einer durchgehenden Handlung wird kompensiert
    Gasdanows Held Kolja nennt seinen in der Nacht mit Claire einsetzenden assoziativen Bewusstseins-Strom eine "lange Galerie von Erinnerungen, die so gewöhnlich wie Regen herabfielen und ebenso unaufhaltsam". Diese Bildergalerie der Vergangenheit, das Fehlen einer durchgehenden Handlung "irritierte", wie Rosemarie Tietze schreibt, schon zeitgenössische Kritiker. Dabei wird dieses Manko durch eine Art prismatischen Erzählens kompensiert: Jedes geschilderte Ereignis, jedes Porträt eines Verwandten oder Weggefährten ist in sich abgeschlossen, eine Miniatur. Alles zusammen fügt sich zu einem Kaleidoskop der Erinnerung. Schwarz und Weiß, in Begleitung von Rot – das sind nicht von ungefähr die zentralen Farben der Welt, die der Held aus den "geologischen Ablagerungen" seiner Vergangenheit heraufholt: Der russische Raum und die Zeit, Russlands winterliche Weiten und die Lohe der Revolution schießen in diesen Bildern zusammen.
    Dem Autor war womöglich nicht bewusst, dass er mit dieser Trias die Wappenfarben der russischen Avantgarde aufrief. Tatsächlich wirkt seine bildgewaltige Sprache von der Malerei inspiriert. Und mehr noch: Subtile akustische Sensationen begleiten die visualisierte Vergangenheit und verleihen den Bildern Tiefe und Eindringlichkeit. Man könnte sie malen oder in eine reizvolle akustische Installation übertragen. Es wird wohl nicht lange dauern, und wir können Gasdanows Erstling als Hörspiel genießen. Denn dazu liefert der Text geradezu eine Steilvorlage. Anblick und Klang der verlorenen Welt durchdringen sich bei Gasdanow zu synästhetischen Kompositionen von großer Meisterschaft.
    "Und auf einmal war mir, als hätte der riesige Erdenraum sich zusammengerollt wie eine geografische Karte, und statt in Russland befände ich mich in einem märchenhaften Schwarzwald. Hinter den Bäumen klopften Spechte; weiße Schneeberge entschlummerten über den Eisfeldern der Seen; und im Tal unten schwebte in der Luft ein dünnes, klingendes Netz, erstarrt im Frost."
    Die Lektüre des russischen Originals zeigt einmal mehr, wie genau und gut Rosemarie Tietze sie ins Deutsche übersetzt hat.
    Gaito Gasdanow "Ein Abend bei Claire"
    Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
    Hanser Verlag