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Gaspard de la Nuit. Fantasiestücke

Wenn je ein französischer Dichter der Vorstellung des "armen Poeten" entsprochen hat, dann könnte es Louis oder - wie er sich selber nannte - Aloysius Bertrand gewesen sein. Obwohl er bereits mit einundzwanzig Jahren von berühmten Kollegen wie Victor Hugo bewundert wurde, gelang es ihm bis zu seinem frühen Tod nicht, seinen einzigen Gedichtband Gaspard de la Nuit zu veröffentlichen. Ein erster Verleger machte Bankrott, bevor das Buch erscheinen konnte, der zweite verschob es von Jahr zu Jahr, bis der Autor darüber starb. Von Bertrands Theaterstücken wurde nur eines in der Provinz aufgeführt und fiel durch.

Gernot Krämer | 21.07.2003
    Wovon er eigentlich lebte während der Jahre, die er in Paris verbrachte, weiß man bis heute nicht - außer, dass er hin und wieder Artikel in kleinen Zeitungen unterbrachte oder Freunde um Unterstützung bat. Eine Stelle als Hauslehrer schlug Bertrand aus, eine andere als Sekretär eines Barons gab er nach kurzer Zeit wieder auf Man vermutet, aus Stolz. Er hungerte und fror, und schließlich fehlten ihm die Mittel, sich so zu kleiden, dass er sich noch in das Büro eines Verlegers oder Theaterdirektors vorgewagt hätte. Den ausgezehrten Dichter befiel die Schwindsucht, an der er 1841, mit vierunddreißig Jahren, starb. Ein einziger Freund, so will es die Legende, folgte seinem Sarg

    Wer Aloysius Bertland eigentlich gewesen war und welche Neuerung er nicht nur in die französische, sondern die europäische Literatur eingeführt hatte, das wurde erst nach seinem Tode sichtbar: Es war das poeme en prose , das Prosagedicht. Beim Erfinden dieser Gattung kam Bertrand möglicherweise sein kapitales Lebenspech zu Hilfe. Weil sich das Erscheinen des Gaspard de la Nuit nämlich Jahr um Jahr verzögerte, hatte er reichlich Gelegenheit, das Buch zu überarbeiten. Die Texte wurden dabei immer knapper und pointierter. Sie entfernten sich von ihrer anfangs eher prosatypischen Fülle und Kohärenz und entwickelten sich sozusagen rückwärts zu Fragment-ähnlichen Gebilden. Der entscheidende Augenblick war gekommen, als Bertrand sich entschied, die Absätze durch breite Zwischenräume voneinander zu trennen wie die Strophen eines Gedichts. Mit diesem Schritt öffneten und verwandelten sich die Texte.

    Spätestens Maunce Ravels Klavierkomposition nach Gedichten aus Gaspard de la Nuit hat für den Nachruhm des Dichters gesorgt. Ravel war fasziniert von dem Bizarren und Spukhaften seiner Texte, und natürlich von den Möglichkeiten, ihnen klanglich Gestalt zu verleihen. Das Perlen der Wassertropfen auf der Fensterscheibe des Dichters, das der Erscheinung der Nixe Undine vorangeht, das Ächzen eines Galgens im Abendwind, das mit Insektengezirp und Glockenklang verschmilzt, die Nachtmahr eines in der Dichterstube tobenden boshaften Zwergs: drei Szenen, die Ravel zu Tongemälden von fingerbrecherischer Kniffligkeit und grandiosem Klangreichtum inspiriert haben.

    Tatsächlich hatte Bertrand selbst einen engen Bezug vor allem zur Malerei. Der Untertitel Fantasiestücke m Rembrandts und Callots Manier - übrigens ein deutlicher Verweis auf E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callols Manier - belegt es. An Rembrandt interessierte ihn das berühmte Helldunkel, an dem französischen Kupferstecher Jacques Callot der Hang zu grotesker Verzerrung. Nicht wenige seiner Prosagedichte beziehen sich direkt auf Gemälde, etwa die zehn Stücke umfassende Serie "Die flämische Schule".

    Hervorstechend ist Bertrands Interesse an der Geschichte und an historischen Stätten; "Chroniken" heißt eine andere Serie, "Das alte Paris" eine dritte. Manche Texte sind mit Jahreszahlen versehen, als schilderten sie exakt verbürgte Ereignisse, was wohl nur in den seltensten Fallen zutreffen durfte. Als Jugendlicher träumte Bertrand von einem historischen Roman über seine Heimat Dijon, die Hauptstadt des Burgund. Teile davon haben in den Prolog des Gaspard de la Nuit Eingang gefunden.

    Dieser Prolog entfaltet eine Herausgeberfiktion, wie wir sie auch in der deutschen Romantik häufig finden. Nicht er selbst, Louis Bertrand, sei der Verfasser des Buches, erklärt er, sondern ein geheimnisvoller Fremder, der sich eines Ta- ges zu ihm gesetzt habe; ein armer Dichter, dem Aussehen und der Rede nach. Er habe, wird der Fremde zitiert, "verschiedene - vielleicht neuartige - Verfahren der Harmonie und Farbgebung" ausprobiert. Mit dem Vesperglockenschlag verschwindet er, und nur das Manuskript bleibt in den Händen des Erzählers zurück - eben jenes Werk Gaspard de la Nuit , das der Herausgeber veröffentlicht, obwohl es sich bei dem Verfasser augenscheinlich um eine Inkarnation des Teufels handele.

    Vieldeutig wie nicht Weniges an diesem Buch ist auch sein Name: Spielt "Gaspard", die französische Namensform von Kaspar, auf den Mohren unter den Heiligen drei Königen an? Hat die Geschichte des Findlingskindes Kaspar Hauser, die zu Bertrands Zeit ganz Europa bewegte, die Namenswahl beeinflusst? Oder hat gar die Figur des "Gaspard" aus Jean Pauls Roman Titan ihre Spuren hinterlassen?

    Wir wissen es nicht, und auch Rainer G. Schmidt, der Übersetzer der Neuausgabe des Gaspard de la Nuit , begnügt sich in seinem Nachwort damit, die Möglichkeiten zu benennen. Zum ersten Mal liegt mit seiner Übertragung eine vollständige, auch um Texte aus dem Nachlass ergänzte deutsche Ausgabe von Gaspard de la Nuit vor. Hier fehlt es an nichts: Der mitabgedruckte Originaltext ermöglicht den direkten Vergleich, Anmerkungen und Nachwort geben wertvolle Lektürehilfen und sind interessant zu lesen, und die ästhetische Gestaltung des Bandes bietet ein Vergnügen, das durch die beigerügten Zeichnungen Bertrands nur noch gesteigert wird.

    Mit knappen Strichen skizziert Rainer G Schmidt das kurze, auf tragische Weise gescheiterte Leben Aloysius Bertrands, die extreme Eigentümlichkeit seines Werks wie auch dessen Vernetzung mit den Strömungen der europäischen Romantik. Er informiert über die bisherigen Übersetzungsversuche, etwa von Stefan George, und deutet das Fortleben der Gattung des Prosagedichts nach Bertrand an.

    Es war Charles Baudelaire, der zehn Jahre nach seinem Tod die Wiederentdeckung einleitete. Im Vorwort zu seinen eigenen Prosagedichten Le Spleen de Paris spricht er von dem "geheimnisvollen und leuchtenden Vorbild" Aloysius Bertrands, das er mindestens zwanzig Mal studiert habe, bevor er es wagte, etwas Gleichartiges m versuchen Nach Baudelaire waren es unter anderen Mallarme, Rimbaud, Henri Michaux, Francis Ponge und Rene Char, die das Prosagedicht weiterentwickelten, und Andre Breton verpasste dem Autor des Gaspard de la Nuit den Ehrentitel eines "Surrealisten der Vergangenheit".