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Gastarbeiter in Deutschland
Motor der Entwicklung

Seit den 1960er Jahren prägen Gastarbeiter die deutsche Sportlandschaft. Ihr Einfluss war eine Triebfeder vieler Entwicklungen.

Von Daniel Theweleit | 09.01.2016
    Lächelnd stehen drei italienische Gastarbeiter 1961 vor einem Junggesellenheim in Braunschweig
    Lächelnd stehen drei italienische Gastarbeiter 1961 vor einem Junggesellenheim in Braunschweig (dpa / picture-alliance)
    Vito Contento erinnert sich noch ganz genau an den Tag, als er vor 54 Jahren zum ersten mal in Deutschland mit dem Fußball in Berührung kam. 20 Jahre war er damals alt und gerade im Rahmen des Anwerbeabkommens aus Italien eingewandert, um in Koblenz sein Geld als Kellner zu verdienen. "Hier in dem Hotel, wo ich gearbeitet habe, war Samstag und Sonntag Musik mit einem Live-Orchester und da kam man mit Gästen ins Gespräch und irgendjemand hat mich da auf Fußball angesprochen. Und der sagte mir einfach: Mittwoch haben wir Training, wenn Du Lust hast, komm dazu, und so bin ich zu dem Fußball gekommen."
    Es war ein Glückstag für Contento, der mittlerweile als Musterbeispiel für gelungene Integration gelten kann. Der Mann aus dem apulischen Dorf Alberobell hat sich zunächst als Kellner durchgeschlagen, wurde dann Dolmetscher, studierte in den 1970er Jahren Sozialpädagogik und sitzt heute für die CDU im Stadtrat von Koblenz. Seine Kontakte in den Sport haben eine wichtige Rolle gespielt auf diesem Weg. 1965 gründete er den SC Italia Koblenz, wo er danach viele Jahre zunächst mit Landsleuten und später mit Fußballern aus aller Welt am Spielbetrieb teilnahm. "Der Fußball hat Türen geöffnet, über den Fußball habe ich wahnsinnig viele Menschen kennen gelernt und Freunde. Der Sport hat in den Anfangszeiten in den 60er und 70er Jahren eine Pionierrolle in der Integration gespielt."
    Eine Erweiterung der Gesellschaft
    Diese Eigenschaft des Sports als Gesellschaftsfeld, das für Ausländer besonders leicht zugänglich ist, hat nicht nur die Sportarten selbst verändert. Für Jürgen Mittag, den Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln, waren diese Begegnungen eine wichtige Bereicherung für die offene Gesellschaft. "Weil man eben im Sport auf Menschen traf, auf die man in seinem persönlichen Umfeld nicht gestoßen ist. Insofern war das eine Erweiterung, eine Pluralisierung der Gesellschaft, die neue Formen des Miteinanders und des Kontaktes ermöglich hat."
    Und der Fußball spielte dabei die zentrale Rolle. Während des 20. Jahrhunderts war das Spiel geprägt von Randgruppen, von Leuten aus den unteren Gesellschaftsschichten. Daher ist es für Gastarbeiter vergleichsweise gut zugänglich gewesen. Ähnlich offen war von den populären Sportarten allenfalls noch das Milieu der Boxer, das bis heute ebenfalls stark von Einwanderern und ihren Nachkommen geprägt ist. "Aber Fußball ist sozusagen als Nationalsport in Deutschland mit der großen Sichtbarkeit, die eben auch schon in den 1960er und 70er Jahren vorhanden war, die Pioniersportart, die diese Entwicklung am deutlichsten zum Ausdruck bringt."
    Offenheit für fremde Einflüsse
    Und die am nachhaltigsten verändert wurde, durch den Einfluss anderer Kulturen, glaubt Vito Contento. Neu hinzu gekommen seien durch die Offenheit für fremde Einflüsse "auf jeden Fall die Kreativität, die Technik, auch die Organisation von Training, das taktische Element ist im deutschen Fußball viel stärker als in früheren Zeiten. Durch die ausländischen Spieler aber auch durch die ausländischen Trainer, die hier gewirkt haben."
    Und dennoch waren die Gastarbeiter im Spitzenfußball lange weniger willkommen. Der Türke Coşkun Taş kam Ende der 1950er Jahre auf eigene Initiative ins Rheinland, war 1960 in allen Endrundenspielen des 1. FC Köln dabei, durfte im Finale aber nicht mitspielen. Weil die Kölner angeblich fanden, dass ein Endspiel um die deutsche Meisterschaft eine Angelegenheit deutscher Spieler sei. Als drei Jahre später die Bundesliga gegründet wurde, standen gerade einmal fünf Ausländer aus vier Nationen in den Kadern der 18 Mannschaften. Fünf Jahre später spielten in 15 Klubs Spieler ohne deutschen Pass.
    Weltmeisterelf mit ausländischen Wurzeln
    Heute sind es rund 50 Prozent. Der Deutsche Fußball-Bund begann aber erst in den 80er und dann endgültig in den 90er Jahren damit, das Thema durch die Installation eines Integrationsbeauftragten und verschiedene andere Initiativen für sich zu nutzen. "Das waren Projekte, die eigentlich erst in dem Bewusstsein in die Wege geleitet worden sind, dass die Gastarbeiter eben kein temporäres Phänomen sind, sondern eine dauerhafte Erscheinung, die sich als fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft etabliert. Aber das ist jetzt eine Zeitphase der 1990er Jahre, in der wir schon eigentlich über die zweite und dritte Generation von Menschen mit ausländischer Herkunft in Deutschland sprechen," sagte der Wissenschaftler Jürgen Mittag.
    Mit den bekannten Folgen: Deutschlands Nationalmannschaft ist 2014 mit Spielern Weltmeister geworden, deren Wurzeln in Ghana, der Türkei, Tunesien, Albanien und Polen liegen.