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Gastland der Frankfurter Buchmesse 2019
Ein Ökosystem für die Literatur

In Norwegen genießt die Literatur einen hohen Stellenwert. Deutlich wird das auch durch die großzügige Förderung für Autoren. Der Effekt ist sichtbar: Bücher gehören neben Erdöl und Trockenfisch zu den begehrtesten norwegischen Exportgütern.

Von Holger Heimann | 15.10.2019
Büchertisch einer Buchhandlung mit Literatur aus Norwegen.
Norwegen ist 2019 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Rund 250 Bücher wurden dafür ins Deutsche übersetzt. (Imago / epd / Thomas Rohnke)
Einen prominenteren Platz gibt es kaum in Oslo. Direkt neben der berühmten gläsernen Oper wächst am Wasser die neue, kaum weniger imposante Nationalbibliothek empor. Zufällig ist die Ortswahl in der Osloer Bucht nicht. Die Literatur hat in Norwegen traditionell einen hohen Stellenwert. Sie spielte im Prozess der norwegischen Identitätsbildung im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen, der seit seinem Roman "Choral am Ende der Reise" zu den bekanntesten und erfolgreichsten Autoren im Land zählt, spricht mit Blick auf jene Zeit gar von einer "Poetokratie".
Theater so wichtig wie Parlament
Vom Schlosspark aus, wo er gern mit seinem Hund Schampus spazieren geht, schaut er die prächtige Karl Johans Gate entlang hinunter auf die Stadt und weist in die Richtung des nahen Nationaltheaters. In bewundernswertem Deutsch, das er während eines zweijährigen Studienaufenthalts in Stuttgart gelernt hat, erklärt er:
"Ein Nationaltheater war sehr wichtig. Norwegen besaß ja ein paar sehr große und wichtige Dramatiker. So liegt das Nationaltheater in Oslo gleich gegenüber dem Parlament, denn das, was sich auf der Bühne abspielte, war für die Gesellschaftsentwicklung genauso wichtig, wie das, was sich am Rednerpult in dem anderen Haus abspielte. In dem einen Haus standen die Politiker, aber im anderen Haus spielte Henrik Ibsen seine Stücke."
Die enorme Wertschätzung für Bücher zeigt sich heute auch in einem einzigartigen Fördersystem, das bereits in den 1960er Jahren etabliert wurde, also noch bevor die Ölförderung vor der Küste das Land zu einem der reichsten der Welt machte. Der Staat kauft seither von etwa 600 ausgewählten Novitäten Jahr für Jahr 555 bis 1500 Exemplare und verteilt sie an die öffentlichen Bibliotheken im Land. Derzeit hat sich die Zahl bei 700 Exemplaren eingependelt. Die sogenannte Abnahmeregelung war zunächst auf norwegische Prosa beschränkt. Doch bald kamen Kinder- und Jugendbücher hinzu, später auch Übersetzungen, Sachbücher und Graphic Novels. Die wohl einmalige Bestimmung wurde zum vermutlich wichtigsten Baustein für ein prosperierendes Literatursystem und einen florierenden Buchmarkt.
Geringeres Risiko
Der Chef des norwegischen Verlegerverbandes Kristenn Einarsson fasst die segensreichen Auswirkungen so zusammen:
"Ein Verleger, der gehaltvolle Titel produziert, weiß, dass er von diesen Büchern mindestens 700 Exemplare verkauft. So wird natürlich das Risiko minimiert. Das hat der Entwicklung der norwegischen Literatur enorm geholfen. Verlage werden ermutigt, neue Autoren zu veröffentlichen. Zugleich wird es ihnen leichter gemacht, Schriftstellerkarrieren über lange Zeiträume zu fördern und an Autoren auch dann festzuhalten, wenn deren erste Bücher nicht rentabel sind."
In einem Land mit lediglich knapp über fünf Millionen Einwohnern und damit einer potenziell kleinen Leserschaft ist die Regelung für viele Verlage überlebenswichtig, und sie hilft Autoren. Großzügige Stipendien sorgen überdies für ein Auskommen, wie es sich Schriftsteller in vielen anderen Ländern nur erträumen können.
Einer der glücklichen Norweger ist Simon Stranger. Er hat bereits 14 Bücher geschrieben, die meisten davon für Kinder. Stipendien haben ihm über Jahre hinweg ein stabiles monatliches Einkommen garantiert, dass er mit verschiedenen Zusatzjobs aufbessern konnte. Stranger, der 1976 geboren wurde, führt zu seinem Lieblingsplatz in Olso, einem versteckten Lokal mit weitem Blick über den Hafen. Hier schreibe er gern, sagt er und erklärt:
"Jeder ernsthafter Schriftsteller kann sich für solch ein Stipendium bewerben. Man darf dann nebenher nur Teilzeit arbeiten, bis zu 50 Prozent. Wenn man das miteinander kombiniert, das Stipendium und die kleinen Zusatzeinkünfte durch einen Job, dann hat man ein ganz normales Leben."
Bestseller über Kriegsverbrecher
Doch mit den Zusatzjobs ist es für Simon Stranger erst einmal vorbei. Er braucht sie nicht mehr. Seit im Vorjahr in Norwegen sein neuer Roman "Vergesst unsere Namen nicht" erschienen ist, konzentriert sich der Autor ganz auf das eigene Schreiben. Das Buch, das in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückführt, wurde in Norwegen zum Überraschungserfolg. Stranger sagt:
"Mit diesem Roman wurde alles anders, mein Leben hat sich total verändert. Der Roman hat im letzten Jahr den norwegischen Buchhändlerpreis gewonnen, das heißt, er wurde von den Buchhändlern im Land zum besten Titel des Jahres gekürt. Das führte dazu, dass sich der Roman zehnmal häufiger verkauft hat als meine übrigen Bücher. Letztlich waren es mehr als 50.000 Exemplare. Für Norwegen ist das einfach nur lustig, unglaublich."
Stranger erzählt in seinem Roman von einem der bekanntesten norwegischen Kriegsverbrecher. Henry Rinnan gilt vielen Norwegern noch immer als Inbegriff des ruchlosen Kollaborateurs und willfährigen Gestapo-Agenten. Stranger blickt in Folterkeller und auf eine Brutalität, die schwer zu ertragen ist. Ausgedacht hat er sich die Schreckensbilder nicht:
"All die Szenen mit Rinnan haben so tatsächlich stattgefunden. Ich habe verschiedene Biografien, Gerichtsdokumente und Interviews mit Überlebenden gelesen. Manches ist zu schrecklich, um es zu erfinden."
Simon Stranger hat sich jedoch nicht auf die literarische Rekonstruktion einer extremen Biografie beschränkt. Er verknüpft vielmehr die Rinnan-Story mit einem Stück jüdischer Familiengeschichte. Den Anlass dazu lieferte ihm eine schockierende Entdeckung. Seine Schwiegermutter, deren Großvater 1942 im Auftrag der Gestapo ermordet wurde, hat nach dem Krieg Teile ihrer Kindheit in genau dem Haus zugebracht, das Rinnan als Hauptquartier diente.
Doch wie erklärt sich Simon Stranger das große Interesse an seinem Roman über 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Okkupation Norwegens durch die deutsche Wehrmacht?
"Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich von dieser Geschichte angesprochen gefühlt haben. Die Wellen, die dieser Krieg aufgeworfen hat, sind immer noch spürbar. Zahlreiche Menschen haben mir geschrieben und ihre persönlichen Geschichten erzählt. Noch lange Zeit nach dem Krieg wurde über all das, was in Norwegen geschehen ist, nicht offen gesprochen. Natürlich waren auch zahlreiche Norweger Nazis. In vielen Familien wurde das tabuisiert, weil es zu beschämend war. Erst die Enkel können jetzt ohne Scham darüber sprechen."
Günter Grass als Lehrer
Den bekannten, mit vielen Preisen ausgezeichneten Schriftsteller Roy Jacobsen überrascht das Interesse für Strangers Roman nicht. Der 65jährige, sportlich wirkende Mann, kommt jugendlich gekleidet mit Sneakers und schwarzem Shirt zum Gespräch. Sich auf Deutsch zu unterhalten, bereitet auch ihm keine Mühe. Er habe die Sprache durch die Romane von Günter Grass und seine Schwiegermutter gelernt, die aus dem östlichen Belgien stammt, erklärt er, bevor er auf den schwierigen Umgang mit der Kriegsvergangenheit zu sprechen kommt:
"Eine Okkupation bedeutet auch, dass viele Leute nach der Okkupation nachdenken müssen, habe ich genug getan, habe ich Falsches getan, habe ich mich wie ein Opportunist verhalten. Wenn man die Fragen selbst nicht stellt, stellt sie jemand anderer. Nach einer Okkupation ist man dreckig, viele Leute sind dreckig, auch die, die nicht für die Okkupation verantwortlich waren. Das verschwindet nicht einfach. Eine Gesellschaft braucht eine Generation oder zwei oder drei Generationen, um die richtigen Fragen zu stellen, um das zu verkraften, was da los war."
Urgewalten der Natur
Seine Roman-Trilogie "Die Unsichtbaren", die jetzt erstmals komplett auf Deutsch erschienen ist, erzählt davon, wie der Krieg das Leben auf einer abgelegenen Insel und im ganzen Land umstülpt und vergiftet. Die Menschen werden herauskatapultiert aus alten Zusammenhängen und Loyalitäten. Doch Jacobsen hat nicht nur einen Kriegsroman geschrieben. Im ersten, titelgebenden Band der Trilogie erzählt er mit großer Ruhe von den Urgewalten der Natur und einer Fischerfamilie, die dem fordernden Alltag mit stoischer Gelassenheit und harter Arbeit begegnet. Es sind die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, doch das Inselleben ist eines jenseits der Zeit, reduziert auf das Notwendige und Existenzielle.
Jacobsen selbst hat noch in den 1950er Jahren auf einer solchen Insel gelebt – in einem einfachen Haus, ohne Elektrizität. Von den einprägsamen Kindheitserfahrungen profitiert sein Roman, der implizit auch die Gegenwart im Blick hat:
"Wenn man einen historischen Roman schreibt, das ist wie ein Gegenwartsroman in Verkleidung. Es kann ja nichts anderes sein. Es wird ja heute geschrieben. Da hat man zwei Zeitschichten – damals und jetzt. Man kann das vergleichen, sich über die Kontraste erregen oder Sentimentalität fühlen oder Nostalgie oder sich wundern, was passiert ist."
Auch andere norwegische Autoren, wie etwa Lars Mytting mit seinem historischen Roman "Die Glocke im See", markieren den radikalen Wandel des Landes. Sie interessieren sich dafür, was im Laufe der Zeit verloren gegangen ist und was gewonnen wurde. Jacobsen aber geht es darüber hinaus um tief wurzelnden Kontinuitäten:
"Die norwegische Mentalität hat sich erhalten. Das Egalitäre – das ist nicht Idealismus, das ist Pragmatismus. Man sagt, Eifersucht ist in Norwegen genau so stark wie die sexuellen Triebe. Man passt aufeinander auf, auch in negativer Hinsicht. Man darf nicht zu groß sein. Aber wenn jemand im Sterben liegt, dann kommen alle, um zu helfen. Diese Mentalität ist uralt und die haben wir in unser sogenanntes sozialdemokratisches Paradies mittransportiert. Und die ist zum Teil noch immer da."
Der Gleichheitsgedanke, der für die norwegische Gesellschaft von jeher eine wichtige Rolle spielt, prägt auch das Geschäft mit Büchern: Jeder Autor, unabhängig davon, ob er bekannt oder unbekannt ist, unterschreibt zu den gleichen Honorarkonditionen – egal bei welchem Verlag. Auch so werden junge Karrieren befördert. Dass in dem dünnbesiedelten Land immer neue vielversprechende Schriftsteller heranwachsen, verdankt sich ganz entscheidend den wohl einmalig guten Rahmenbedingungen. Davon ist auch Per Petterson, einer der stilleren Stars der norwegischen Literaturszene, überzeugt:
"Einerseits hat es mit der Tradition zu tun. Aber es ist einfach auch die Situation hier. Wir haben eine Art Ökosystem rund um die Literatur in Norwegen."
Der Erfolg dieses Systems lässt sich auch außerhalb des Landes beobachten. Bücher gehören neben Erdöl und Trockenfisch längst zu den begehrtesten norwegischen Exportgütern.
Simon Stranger: "Vergesst unsere Namen nicht"
Aus dem Norwegischen von Thorsten Alms, Eichborn Verlag, Frankfurt, 352 Seiten, 22 Euro
Roy Jacobsen: "Die Unsichtbaren. Eine Insel-Saga"
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann, C.H. Beck Verlag, München, 614 Seiten, 28 Euro
Lars Mytting: "Die Glocke im See"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Insel Verlag, Berlin, 486 Seiten, 24 Euro