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Gastschulabkommen
Schluss mit dem Grenzstreit

Eltern trennen sich, lassen sich scheiden, wohnen nicht mehr zusammen: Über viele Jahre lang mussten sich Familien an der Hamburger Stadtgrenze abenteuerliche Konstruktionen einfallen lassen, um ihre Kinder von Schleswig-Holstein aus auf eine Schule in Hamburg schicken zu können. Mit einem neuen Gastschulabkommen soll damit Schluss sein.

Von Johannes Kulms | 19.07.2016
    Kinder überqueren einen Zebrastreifen.
    Das neue Gastschulabkommen zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg soll Schülerinnen und Schülern den Besuch einer Schule im jeweils anderen Bundesland erleichtern. (picture-alliance / dpa / Georg Wendt)
    Eine Hamburger Altbauwohnung – auf dem Sofa schnurrt eine Katze. Wir sind zu Gast bei Familie Schiffer. Ihren echten Namen wollen sie im Radio nicht hören, ebenso wenig ihre Stimme. Aber sie sind bereit ihre Geschichte zu erzählen, die höchst groteske Züge trägt und die vielen anderen Familien aus den Speckgürteln der Stadtstaaten Hamburgs, Berlins oder Bremens bekannt vorkommen dürfte. Es ist die Geschichte eines Grenzübertritts – geografisch wie auch juristisch.
    Gerade mal zwei Kilometer waren es von ihrem Haus in Schleswig-Holstein bis zur Hamburger Landesgrenze sagt Frau Schiffer. In der dritten Klasse wird klar: Der Sohn ist Legastheniker, die Eltern wollen einen Schulwechsel: 20 Minuten Autofahrt entfernt gibt es eine Schule mit Integrationsklasse und besonderer Förderung. Bloß liegt die Schule eben im Stadtstaat. Das geht nicht, erklärt die Schulleiterin freundlich aber entschieden. Die Eltern überlegen zu klagen aber rechnen sich nur geringe Chancen aus.
    Betrug aus Verzweifelung
    Ein viertel Jahr später geht Frau Schiffer erneut zur Schulleitung und sagt: Mein Mann und ich haben uns getrennt, ich bin mit meinem Sohn nach Hamburg gezogen. Sie legt eine Hamburger Anschrift vor. In Wirklichkeit die Adresse von Freunden. "Alles ein Riesenstress", sagen die Schiffers heute.
    "Da versuchst du deinem Kind beizubringen, dass es nicht lügen soll. Und sagst ihm jede Woche: 'Falls dich jemand fragt: Du wohnst in Hamburg!'
    Ständig die Angst, dass jemand Verdacht schöpfen könnte, dazu der ganze Verwaltungsaufwand."
    Doch es klappt, die Geschichte fliegt nicht auf. Solche und ähnliche Fälle sollen in Zukunft deutlich eingedämmt werden, wenn es nach dem neuen Gastschulabkommen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein geht. Einen entsprechenden Entwurf stellten die Bildungsminister beider Länder vergangene Woche vor. Das Abkommen soll ab Sommer 2017 in Kraft treten und bis 2019 gültig sein.
    "Das, was dieses Abkommen deutlich unterscheidet von dem Vorgängerabkommen, das wir auch schon hatten, dass wir jetzt sagen, für ganz bestimmte Gruppen von den Schülerinnen und Schülern, nämlich für diejenigen, die nach der Grundschule eine weiterführende Schule besuchen wollen und für diejenigen, die nach dem mittleren Schulabschluss eine Oberstufe besuchen wollen. Da sagen wir jetzt: Ihr habt das Recht auf freie Schulwahl", sagt Andreas Gleim, Chefjustiziar bei der Hamburger Schulbehörde. Einschränkungen werde es aber weiter geben: Für Berufsschüler und für Schülerinnen und Schülern, die auf den Besuch einer speziellen Sonderschule angewiesen sind.
    Das Geld an Hamburger Schulen ist knapp
    Schon jetzt besuchen knapp 4100 Schüler aus Schleswig-Holstein Hamburger Schulen und Ausbildungsstätten. Nur rund 1000 Jugendliche pendeln in umgekehrter Richtung. Seit vielen Jahren sorgt diese Diskrepanz für Zoff zwischen den beiden Ländern:
    "Der Knackpunkt ist wie so häufig das Geld. Es kostet einfach Geld, Schülerinnen und Schüler aufzunehmen. Und das Geld ist in allen Gebietskörperschaften knapp. Und natürlich will man an dieser Stelle nur das leisten, wozu man auch verpflichtet ist."
    Jedes Jahr überweist Schleswig-Holstein deswegen Geld an Hamburg. 2016 sind es 13,3 Millionen Euro. Das neue Gastschulabkommen sieht vor, dass dieser Betrag bis 2019 auf 13,6 Millionen Euro ansteigt.
    Zurück bei Familie Schiffer. Eineinhalb Jahre lang haben sie damals die Geschichte aufrechterhalten. Dann ist die Familie auch in Wirklichkeit nach Hamburg gezogen.

    "Ich kann mich daran gar nicht mehr erinnern", sagt der inzwischen Anfang 20-jährige Sohn heute.
    "Für unseren Sohn war das die richtige Schule", meinen die Eltern. "Wir würden es heute genauso wieder machen."
    Womöglich haben sie mit der Trickserei einem Hamburger Kind den Schulplatz weggenommen.
    "Glaube ich nicht", sagt Frau Schiffer. "Möglich ist es schon", sagt Herr Schiffer. "Es war halt eine egoistische Entscheidung, man denkt nur an das eigene Kind, sagt er."
    Schuldig fühlen sich beide nicht.
    Auch ein Lehrer freut sich über das neue Gastschulabkommen: "Für mein Gewissen wird das eine große Erleichterung sein", sagt der Mann, der seit langer Zeit an einer Hamburger Schule vor allem Verwaltungsaufgaben übernimmt. "Ich habe den Schülern immer gesagt: Ihr müsst eine Hamburger Meldeadresse haben, wenn ihr kommen wollt. Und auch wenn ich geahnt habe, der wohnt in Schleswig-Holstein: Ich habe nichts gesagt, weil da oft Schicksale hinter stehen", sagt der Lehrer.