Graffiti-Beauftragter in Stuttgart

Betreutes Sprayen

Eine Frau fotografiert ein Graffiti am Stuttgarter Hauptbahnhof.
In Stuttgart stellt auch die Bahn Flächen für Sprayer zur Verfügung und zahlt sogar teilweise die Farben. © imago/Arnulf Hettrich
Von Uschi Götz · 25.04.2018
Dass Graffiti keine Schmierereien, sondern Teil urbaner Kunst sind, ist längst anerkannt. Und damit sich nicht jeder Sprayer irgendwo verewigt, hat Stuttgart einen Graffiti-Beauftragten. Mehr Bürokratie - weniger künstlerische Freiheit?
"Der Bedarf ist da für Graffiti, war schon immer da. Und dann haben wir gesagt: Hey, was kann man machen, gegen dieses - Oh, wir brauchen mehr Verbote, das ist ganz schlimm, das ist Vandalismus. Wir sagen: Nö, ist es nicht, wir wollen dem Raum geben, um zu zeigen, wie schön das sein kann."
"Seit einigen Jahren gestalten wir in Fußgängerunterführungen einzelne Wandbereiche. Damit erreichen wir zwei Verbesserungen: Die illegalen Farbsprühereien gehen deutlich zurück, und die künstlerische Gestaltung der Flächen kommt eigentlich bei der Bevölkerung sehr gut an."
Claus-Dieter Hauck ist Abteilungsleiter beim Tiefbauamt der Landeshauptstadt Stuttgart. Vor allem ist er für Brücken und Tunnelbau zuständig. Doch vor etlichen Jahren landeten Anfragen von Florian Schupp auf seinem Tisch. Dieser wollte mehr Flächen für Graffiti. Jetzt ist Hauck auch für Graffiti in Stuttgart zuständig.
Florian Schupp ist seit 2004 Graffiti-Beauftragter. Offiziell leitet er das "Projekt Farbe" der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft. Die zwei gegensätzlichen Männer fanden zusammen und können bis heute gut miteinander.

Der Beton wird bunt

"Mein Vorteil ist, ich entstamme der Szene erster Generation, ich kenne die Seite und kenne durch meinen Job jetzt auch die andere Seite von der Stadt, und was wir versuchen ist, das weit zu streuen: Es soll jeder beteiligt werden. Wir richten auch nicht, oder beurteilen: Hey, das ist gut, das kommt dran, das ist nicht gut. Alle müssen dazu kommen, nicht immer die gleichen. Das ist das Erste, und das Zweite ist: Was wir der Stadt vorschlagen, wir sagen: Nimm eine Wand, die sowieso andauernd betagt oder auch beschmiert, von irgendwelchen politischen Sachen, die ihr ständig streichen müsst. Ihr gebt uns einmal die Materialkosten, wir machen die Wand schön, und die bleibt dann auch fünf, sechs Jahre schön. Und das haben wir bewiesen in 14 Jahren."
"Vor allem gestern habe ich sehr viele positive Kommentare gekriegt, die Blumen erkennen und das dann auch wirklich schön finden und sich auch bedankt haben."
Seit Tagen sprüht Chris Ganter, 37, alias Jeroo, am Stuttgarter Bahnhof Sommerrain im Nordosten der Stadt. Eine graue, etwa 50 Meter lange Wand soll lebendiger werden. Eine Andeutung der vier Jahreszeiten wird am Ende auf der Wand zu sehen sein, etwa 120 Dosen stehen in einer Ecke dafür bereit.
Noch ist er beim Sommer, Blüten und vogelartige Wesen, aus denen Fischen hervorschlüpfen, sind bereits gut zu erkennen:
"Ach, man kann es sich aussuchen. Sind irgendwelche Fantasieblumen. Irgendetwas zwischen Lilien und Callas, genauso wie meine Vögel: Ist das jetzt ein Schwan oder ein Kranich? Ich sage mal, es ist ein Schwanich."

Den meisten Anwohner gefällt es

Jeroo ist eine internationale Größe. Scharen von Nachwuchssprayern pilgern zu seinen Bildern, von denen es in Stuttgart besonders viele zu sehen gibt. Es sind vor allem Naturmotive, die der Künstler auf Wände und in Stuttgart Kaltental auch auf riesige Brückenpfeiler gesprüht hat.
Immer mehr Künstler wie Jeroo sind in Stuttgart bei Auftragsarbeiten zu beobachten.
Umfrage: "Ich finde das gut, so nackte Mauern geben ja nichts her." "Ich finde es toll, ich finde es bringt ein bisschen Farbe rein, ein bisschen Kreatives an den Bahnhof." "Also das gefällt mir gut. Wo ich immer so ein Problem habe, ist mit reinem Sichtbeton, ich hasse das eigentlich, das finde ich jetzt schön."
Spätestens in drei Wochen will Jeroo fertig sein. Seine Skizze hat er dem Bezirksbeirat vorab zur Genehmigung vorgelegt. Das sind die Spielregeln. Jeroo ist Gymnasiallehrer, verbeamtet, wie er schmunzelnd erzählt. Stuttgart sei zumindest im illegalen Bereich zurzeit eine der angesagtesten Städte, behaupten einige Leute aus der Szene. Jeroo spricht für legales Graffiti und meint:
"Schwer zu sagen. Stuttgart war schon immer für Qualität bekannt. In so Großstädten wie Berlin da haben die Leute oft nicht so den Willen oder die Energie, ein Bild drei vier fünf Stunden zu malen. In Berlin geht das halt in einer Stunde - und dann ist das wieder weggemalt."
Der Sommer ist fast fertig, es geht an den Herbst. Ein Wildschweinkopf ist bereits vorgezeichnet.
"Früher, vor vielen Jahren mittlerweile, da gab es tatsächlich einen Kriterienkatalog für legale Wände, da wir uns als Szene bemüht haben, dass es mehr legale Flächen gab. Es gab nur eine in Stuttgart, und das war einfach zu wenig und zu weit entfernt für die meisten."

Auch die Bahn stellt Flächen zur Verfügung

Drei offizielle Sprühflächen gibt es in Stuttgart, auch eine "Hall of Fame" ist dabei. Graffiti-Beauftragter Schupp organisiert regelmäßig weitere legale Flächen, die nach vorab eingereichten Vorlagen besprüht werden können. Zu den Auftraggebern zählen mit der Stadt auch immer mehr Unternehmen, wie etwa ein großer Energieversorger in Baden-Württemberg. Über die Jahre ist ein vertrauensvolles Verhältnis gewachsen, auch die Deutsche Bahn kooperiert mittlerweile mit Schupp:
"Ich fand diese Idee, die ja zusammen mit der Stadt entstanden ist, dass man großflächige Wände künstlerisch gestaltet, so interessant. Bei meinen vielen Reisen, von Neuseeland über Rom bis zu meiner Heimatstadt Mannheim, bin ich begeistert, wie sich diese Kunstszene entwickelt hat. Als dann die Stadt kam und gefragt hat, habt ihr nicht auch Flächen, die ihr freigeben wollt, da war ich gleich Feuer und Flamme."

Nikolaus Hebding ist Leiter des Bahnhofmanagements in Stuttgart. Die Bahn gibt nicht nur Flächen frei, sie beteiligt sich in Stuttgart sogar an den Kosten für die Farben. So wird auch Jeroo bei seinem Kunstwerk im Sommerrainer Bahnhof finanziell von der Bahn unterstützt. Ein bundesweit bislang einzigartiges Engagement:
"Ich denke schon, dass wir damit Vorreiter sind. Ich weiß jetzt nicht, ob sich viele Kollegen bei der Bahn so trauen, mit Kunst an die Bahnhöfe zu gehen. Weil Kunst fordert ja auch Diskussion heraus: Das ist schön! Soll man das machen? Darf man das machen? Auch unser internes Regelwerk hat ja Vorgaben, das macht ja auch Sinn, dass wir ein einheitliches Erscheinungsbild an Bahnhöfen hat. Aber ich will diesen Weg gehen, weil es kommt bei den Kunden gut an. Ich bin gerne Vorreiter hier mit den Bahnhöfen in Stuttgart."
Der Leiter des Stuttgarter Bahnhofsmanagements ist gerade dabei, neue Flächen zu finden, jüngst gab es auch ein Treffen mit Florian Schupp:
"Das ist mir ein Herzensanliegen, dass die Stadt bunter wird. Weil ich das so erlebt habe, mit Freunden und weil viel von der ersten Generation, das muss man so sagen, wir hatten all diesen Raum in den Jugendhäusern, da wurden mit uns Leinwände gebaut, das wurde unterstützt, und Leute davon, das ist kein Witz, die sind heute freie Künstler, die leben davon. Das sind Grafiker, die Liebe zum Buchstaben hat sich da weiterentwickelt. Da passiert einiges, wenn man dem Ganzen Raum gibt."
Graffiti am Nordbahnhof in Stuttgart
Graffiti ja, aber keine Schmierereien - so lautet die Devise in Stuttgart.© imago/Arnulf Hettrich

Stuttgart und die Subkultur

"Also ich bin sehr begeistert von den Kunstwerken, die dort entstehen. Es ist faszinierend, wenn man sich die Bilder anschaut."
Sagt Claus Dieter Hauck vom Tiefbauamt und weiß dabei auch den Stuttgarter Gemeinderat hinter sich, wenn es darum geht, Flächen zu vergeben.
Als die Graffiti-Bewegung vor allem aus New York in die europäischen Städte kam, waren München, das Ruhrgebiet und später Berlin kreative Hochburgen.
Und doch wurde Stuttgart die Mutterstadt der deutschen Hip-Hop-Szene. Hip-Hop-Musik und Graffiti gehörten lange Zeit zusammen.
In den 1990er-Jahren waren es die Fantastischen Vier und das Künstlerkollektiv Kolchose, ein musikalisch-politisches Bündnis, das deutschlandweit den Takt vorgab. Der Rapper Afrob zählte etwa dazu, Freundeskreis mit dem in Stuttgart geborenen Max Herre und die Massiven Töne, alle fingen sie in Stuttgart an:
Aus etwa 200 Breakern, Rappern und Sprayern bestand in den 1990er-Jahren die Stuttgarter Szene, erinnert sich Marcel Folmeg:
"Und dann ist die Kolchose etwas bekannter geworden, dann hat sich das Ganze bzw. die Musiker davon, dann hat sich das ein bisschen verlaufen."
Auch Marcel Folmeg, alias MASO, ist ein weit über die Landesgrenzen hinaus bekannter Künstler. Im Auftrag der Stadt hat er unter anderem eine Fußgängerpassage in der Stuttgarter Innenstadt gestaltet. Eine Art Zustandsbeschreibung der Landeshauptstadt: Die Einkaufsmeile Königstraße ist darauf zu erkennen, die Staatsoper, das VfB-Stadion, auch im Stau stehende Autos sind auf dem Bild zu sehen. Im Unterschied zu einigen seiner Kollegen, kann Marcel Folmeg keinen Aufbruch in der Stadt erkennen:
"Alles viel zu clean, finde ich. Also es fehlen einfach, durch das, dass auch die Fläche fehlt, fehlen Gebäude, Areale, wo man sich ausleben kann. Und wenn es die gibt, dann werden sie gleich wieder dicht gemacht, oder wird einem irgendein Stock in den Weg gelegt."

Früher ging es toleranter zu

Folmeg ist politischer als viele seiner Künstlerkollegen. Bis heute reist er viel und war einer der ersten Graffiti-Künstler, die in Sambia, Botswana und Mosambik künstlerisch unterwegs waren. Von einem pietistischen Bürokratensumpf spricht Folmeg mit Blick auf das Stuttgarter Rathaus. Mit dem grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn sei es für die urbane Kunst nicht einfacher geworden, sagt er. Ausdrücklich lobt Folmeg den verstorbenen Manfred Rommel, von 1974 bis 1996 war Rommel CDU-Oberbürgermeister der Landeshauptstadt:
"Das war super tolerant die Stadt damals in der Hinsicht. Da habe ich noch einen Zeitungsartikel, in dem der Polizeipräsident sagt, dass es ja okay wäre, so lange man keine S-Bahnen oder keine Bahnen und keine Privathäuser bemalt. Das war damals so der Tenor der Stadt."
Vor über einem Jahr stand für den Kunstsammler Alfred Pantel fest: So kann es nicht mehr weitergehen. Immer mehr Schmierereien fanden sich auf zwei Toren zu einer von einer Hausgemeinschaft bewohnten Anlage in der Stuttgarter Innenstadt. Die Reinigungsarbeiten waren mit bis zu 300 Euro pro Putzaktion auf Dauer zu teuer:
"Dann hat jemand aus der Nachbarschaft gesagt, Mensch guck doch mal nach einem Künstler, der Graffiti-Arbeiten macht. Ein ungeschriebenes Gesetz wäre, dass solche Arbeiten durch Dritte nicht übermalt, verschmiert oder beschädigt werden."
Bei einem Glas Wein überzeugt er die Hausgemeinschaft vom Plan des Nachbarn, und schnell ist ein geeigneter Künstler gefunden. Simon Löchner, ein noch junger Sprayer aus dem Nachbarkreis, bekommt den Zuschlag, verbunden mit einer einzigen Auflage: Abstrakt soll es sein.
"Ausgeschlossen haben wir – jetzt habe ich ja nichts gegen Micky Maus oder Flora und Fauna. Aber da wollte wir einfach nicht einsteigen, das war nicht unser Ziel, sondern gesagt: mach was!"
Ein paar Tage braucht der Graffiti-Künstler für ein farbenfrohes, geometrisches Werk. Die Hausgemeinschaft ist so begeistert, dass noch ein weiterer Auftrag hinzukommt. Die Mauer zwischen den beiden besprühten Toren an der Treppe soll auch noch gestaltet werden. Etwas über 2000 Euro kostete das Gesamtkunstwerk, das fast ein Jahr lang unbeschadet überstand. Nun sind zwei rote, undefinierbare Kritzeleien zu sehen:
"Jetzt vor zwei, drei Wochen ist diese Situation doch eingetreten, aber der Künstler sagt, das kann er gut beheben, das ist nicht so extrem."
Künstlerehre. Mit Farbresten will Simon Löchner bald anrücken und sein Bild wieder in den Urzustand bringen.

"Graffiti ist kein Vandalismus", sagt Frank Hartmann. Der Medienphilosoph leitet an der Bauhausuniversität Weimar die Forschungsstelle für visuelle Kultur, Kunst und Medien. Hören Sie hier das Gespräch mit ihm:
Audio Player

Mehr zum Thema